Die 29-jährige Marina kehrt nach einem Jahr in Stockholm nach Kiruna zurück. Das, wovor sie geflohen war, ist noch da: Sie ist nicht christlich genug für die Familie väterlicherseits, hat eine Sünde begangen. Die Mutter will am liebsten gar nichts mit der Vergangenheit zu tun haben, hat ihren Kindern nicht einmal ihre Muttersprache Samisch beigebracht. Und da ist noch eine unglückliche Liebe. Doch Marina macht sich daran, Stück für Stück die Rätsel zu lösen und das Regime der Scham zu überwinden. Ann-Helén Laestadius‘ neuer Roman „Die Rückkehr der Rentiere“ ist ihrer eigenen Generation gewidmet – und einem Kiruna, das es nicht mehr gibt, weil es den Bergbauschäden zum Opfer fiel. Das Buch ist ab heute auf Deutsch erhältlich.
Die Autorin trägt selbst den Namen des Lars Levi Laestadius (1800–1861), lutherischer Pfarrer und Gründer einer länderübergreifenden Erweckungsbewegung, die bis heute existiert, wenn auch etwas zersplittert. Es handelt sich um einen strenggläubigen Zweig innerhalb der evangelischen Kirche in Schweden, Finnland und Nordnorwegen. Was tun, wenn die eigene Kusine, die fast wie eine Zwillingsschwester ist, zu einer Familie von Laestadianern gehört? So werden Marina schon als Kind gewisse Werte eingeimpft. Die Eltern sind nicht religiös, aber der Vater hat seinem wortgewaltigen Laienprediger-Bruder wenig entgegenzusetzen.
Die Mutter hat ihre eigene Geschichte, die die erwachsene Marina nur bruchstückhaft ermitteln kann. Die Mutter, ebenso wie ihre Schwester, gehört zu einer Generation, wo den Kindern die samische Sprache in der Nomadenschule teilweise noch mit Gewalt ausgetrieben wurde. Die Schwestern wollten, dass ihre Kinder es leichter hätten, und sprachen nur Schwedisch mit ihnen. Eindringlich ist beschrieben, wie Marina mit den Worten kämpft, die sie als Kind bei den Großeltern aufgeschnappt hat. Wie bei den beiden früheren Büchern der Autorin haben die Übersetzerinnen Maike Barth und Dagmar Mißfeldt auch diesmal viele samische Vokabeln und Ausdrücke im Original gelassen, die sich allerdings leicht zu erschließen sind. Außerdem werden sie in einem Glossar erklärt.
Kiruna 1999
Ann-Helén Laestadius sagte selbst in Interviews, dass es ihr ein Bedürfnis war, über das Kiruna ihrer Kindheit zu schreiben – das, was nun Stück für Stück abgerissen wurde. Der Haupthandlung spielt 1999, mit Rückblicken, die noch weiter zurück gehen. Vor diesem Hintergrund verfolgen wir Marinas Entwicklung, Enttäuschungen und Entdeckungen, die die Autorin einfühlsam beschreibt. Gleichzeitig ist es ein Portrait der damaligen Gesellschaft an diesem Ende Schwedens, an dem mehrere Kulturen und Sprachen nebeneinander existieren. Der schwedische Titel ist „Skam“ – Scham, ein Thema, das sich wie ein roter Faden durch das Buch zieht. Wer schämt sich warum und wofür? 1999 gibt es dann eine Hochzeit in Kirunas Kirche (nicht Marinas), bei der sogar gejoikt wird – auch wenn die Laestadianer da den Raum verlassen.
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- Ann-Helén Laestadius:
- Die Rückkehr der Rentiere
- Hoffmann und Campe
- 28 €
Zu den früheren Büchern von Ann-Helén Laestadius:
- Rezension: „Das Leuchten der Rentiere“ von Ann-Helén Laestadius (Schwedische Ausgabe: „Stöld“)
- Rezension: „Die Zeit im Sommerlicht“ von Ann-Helén Laestadius (Schwedische Ausgabe: „Straff“)