Niemand wohnt mehr fest in Ritsem. Trotzdem ist meistens jemand dort. Samen von Unna Tjerusj. Mitarbeiter von Vattenfall. Personal der STF-Hütte. Touristen. Viele wollen dort auch nur umsteigen: Auf ein Boot, in den Helikopter, auf das Schneemobil. In Wander- oder Skistiefel. In Ritsem endet die Straße, aber der Weg geht weiter. Ins Fjäll. Oder zumindest über Akkajaure, Schwedens mächtigsten Stausee, der das Wasser des Stora Luleälven hält.
Bei meinem ersten Besuch Ende April empfing mich Ritsem, samisch Rijtjem, mit hohen Schneewänden und tief hängenden Wolken. Nun ist Ende August, einer der letzten Sommertage im Fjäll, und ich bin erneut auf dem Weg dorthin. Die Straße, auf der ich unterwegs bin, gibt es erst seit 1965. Sie wurde für den Errichtung des Kraftwerks in Vietas gebaut. Menschen nutzen dieses Gebiet jedoch schon seit vielen Tausend Jahren. Der Status des Welterbes für die Region rechts und links des Stora Luleälven, Laponia, wurde nicht zuletzt deshalb verliehen, weil die Landnutzung der Samen die Natur zwar prägte, aber nicht zerstörte. Die Spuren, die diese früheren Rentierhalter hinterließen, sind überwachsene Feuerstellen und Vorratsgruben.
Karte: Ankommen und Umsteigen im Tal des Stora Luleälven
Luspebryggan – der alte Knotenpunkt
Wie kam man früher ins Fjäll? Ein zentraler Ort dafür war Luleluspen, also die Stelle oberhalb des Wasserfalls Luspeforsen, den es heute nicht mehr gibt – genauso wenig wie den Ort Luspebryggan.
Von dort aus konnte man sich flussaufwärts über ein vom Stora Luleälv gespeistes Seesystem bewegen, musste allerdings bei den Wasserfällen umtragen. Denselben Weg nahmen auch die ersten Materiallieferungen und die Bauarbeiter für den Suorva-Damm ab 1920. Der Ort Luspebryggan wurde zu einem Ausschiffungshafen. Dafür bekam er sogar eine Anbindung an die Inlandsbahn. Als STF (Svenska Turistföreningen) mit Bootsfahrten Richtung Vaisaluokta begann, fanden auch Touristen ihren Weg nach Luspebryggan. Luspebryggan war also in etwa das, was Ritsem heute ist: Der Ort, an dem man umsteigt. Die Protagonistin Eva Stina Sandling in Hannah Ambühls Film „Älven, min vän“ hat ihn als einen sehr lebendigen Ort in Erinnerung. Unter anderem war dort auch die Basis für die ersten Flugunternehmen im Fjäll: Sie nutzten Wasserflugzeuge und starteten und landeten auf den Seen.
Das ersten Kraftwerk am Stora Luleälv steht in Porjus und wurde bereits 1914 in Betrieb genommen. Dieser Staudamm beeinträchtigte Luspebryggan noch nicht. Nach dem Bau des neuen Damms und des neuen Kraftwerks in Porjus konnte aber höher aufgestaut werden. Luspebryggan samt seinem Wasserfall wurde 1975 überflutet. An der Stelle des früheren Wasserfalls, so erfährt man auf dem Schild vor Ort, ist die Strömung aber immer noch so kräftig, dass das Eis dort nicht lange hält. Das macht Luspebryggan heute zu einem begehrten Ort für Wasser- und Zugvögel. Und so ist heute ein Turm zur Vogelbeobachtung das einzige Gebäude in Luspebryggan.
Der Weg nach Westen
Ich fahre weiter auf dem „Vägen västerut“ , dem Weg nach Westen. offiziell Länsväg BD827. Der Spitzname nach einem Western mag die Stimmung widerspiegeln, die beim Bau des Kraftwerks Vietas herrschte. 1971 folgte das Kraftwerk in Ritsem (Überblick über alle Kraftwerke am Luleälven hier).
Auf der anderen Seite des Stora Lulevatten (samisch Stuor Julevu) liegt wegloses Land und ein Naturreservat. Der nächste See in der Kette ist Langas ( Láŋas), und nun rücken die Bergspitzen schon näher. Bei Kebnats (Gäbnásj) fahre ich hinunter zum Wasser. Dort stand ich im Frühjahr und verzichtete auf eine Skitour über das Eis, weil die STF-Station Saltoluokta auf der anderen Seite gerade wegen Corona vorzeitig die Saison beendet hatte.
Nun hätte ich die Chance, das Boot zu nehmen. Saltoluokta hat noch offen. Die Schilder sind aufgerüstet mit der Aufforderung, auch an Bord Abstand zu halten. Man darf sich außerdem die Hände mit dem allgegenwärtigen Desinfektionsmittel reinigen. Der Himmel ist blau, der See auch, die Berge extrem einladend. Von Saltoluokta aus führt der Kungsleden Richtung Kvikkjokk – vom Stora Luleälven zum Lilla Luleälven. Natürlich hat man auch noch viele andere Wandermöglichkeiten. Nächstes Mal!
Stora Sjöfallet
Wenn man weiß, wo man suchen muss, sieht man die Wasserfälle von Stora Sjöfallet schon vor Vietas (Viedás) von einer Stelle am Ufer aus. Um tatsächlich dorthin zu gelangen, muss man durch Vietas durchfahren. Das Hinweisschild auf den Fußweg nach Stora Sjöfallet steht in einer Biegung. Laut Schild sind es 1,5 Kilometer. Im Frühjahr war der Weg unter dem Schnee nicht einmal zu erahnen. Nun ist es ein Leichtes, den Markierungen zu folgen. Neben dem Pfad wachsen Blaubeeren und Krähenbeeren. Ich greife zu! Am Ende des Pfades verrät mir zunächst das Geräusch, dass ich kurz vor dem Ziel bin. Um das Wasser zu sehen, muss man schon etwas klettern.
Stora Sjöfallet ist eigentlich eine Serie von fünf Wasserfällen, die alle eigene Namen haben. An dieser Stelle versperrt ein quer verlaufender Felsriegel dem Stora Luleälven den Weg. Auf Samisch heißt das Gebiet Stuor Muorkke – Muorkke ist das Land zwischen zwei Seen. Der älteste bekannte Wohnplatz in Laponia liegt nordwestlich von hier und ist 7000 Jahre alt. Der Höhenunterschied zwischen dem Gewässer oberhalb, Kårtjejaure (Gårtjejávrre), und dem Gewässer unterhalb, Langas, beträgt knapp 40 Meter. Über Jahrtausende hat der Fluss sein Bett durch den Felsriegel hindurch gegraben. Die Spuren im Stein verraten, welche Wassermassen sich einst dort den Weg bahnten – bevor der Suorva-Damm im Zuge seines etappenweisen Ausbaus immer mehr davon zurückhielt. Das Wasser aus dem Stausee Akkajaure wird außerdem durch das Kraftwerk in Vietas geleitet und kehrt erst unterhalb der Fälle wieder in sein ursprüngliches Bett zurück.
Es ist hübsch, wie das Wasser steil den Hermelinfall herunterstürzt, aber ein bisschen so, als würde ein kleines Kind in den Schuhen von Erwachsenen laufen. Ich klettere noch ein bisschen auf der Felszunge herum und verschaffe mir so einen Überblick über den Verlauf des Wassers. Um alle fünf Wasserfälle vollständig zu „bedienen“, so stelle ich fest, braucht es einfach mehr Wasser, als gerade vorhanden ist.
Der Spätsommer hat den Vorteil, dass das Naturum in Vietas täglich geöffnet hat. Das Informationszentrum für das Welterbe Laponia wurde 2014 eingeweiht. Das Zentrum hat einen kleinen Innenhof, in dem gerade zwei Wanderer mit Hund windgeschützt picknicken. Im Winter, so erfahre ich später, soll sich dieser Innenraum mit Treibschnee füllen und man kann dann durch die Glaswände die Strukturen erkennen. Deshalb heißt der Entwurf auch Snöfälla, Schneefalle. In der Ausstellung erfährt man etwas über die samische Lebensweise, man kann Karten und Bücher kaufen, bekommt Wandertipps für die Umgebung, es gibt eine Cafeteria und W-Lan. Die Atmosphäre ist ruhig und nett und die Waffeln lecker.
Ein Fernglas ist auf den unteren rechten Fall gerichtet, von dem es fröhlich plätschert. Am linken unteren wäre auch nichts zu sehen. Ein Foto erinnert an die Zeit, in der der Fall noch seinem Namen Ehre machte. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, das Zentrum an diese Stelle zu setzen. Nicht einmal zur Einweihung des Zentrums, so lese ich später, war Vattenfall bereit, dem Wasserfall kurzfristig sein früheres Volumen zu gönnen. Vattenfall hatte dies damals mit Hinweis auf den großen Aufwand und Sicherheitsbedenken abgelehnt, zudem wäre es natürlich ein ökonomischer Verlust gewesen. Mikael Utsi von Sirges Sameby hatte damals gegenüber Sveriges Radio eine andere Erklärung:„Vattenfall will, dass wir vergessen, dass Nordeuropas größter Wasserfall zerstört ist.“
Es kommt allerdings vor, dass Vattenfall gezwungen ist, Wasser abzulassen, um den Damm nicht zu gefährden. Das ist das Szenario aus Mikael Niemis Katastrophenroman „Fallvatten“. Der Schriftsteller aus Pajala lässt den Suorva-Damm brechen und das gesamte Flusstal von einer Flutwelle heimsuchen. Die Details mögen nicht ganz korrekt sein, doch das Szenario ist nicht komplett unrealistisch. Würde er tatsächlich brechen, würde keiner der anderen Dämme den Wassermassen standhalten. Im Buch „Arvet“ über Laponia von Hans Andersson, Olavi Korhonen und Tor Lundberg finde ich ein Foto von Stora Sjöfallet von 1989. Damals, so verrät die Bildunterschrift, war der Sommer so verregnet und das Reservoir hinter Suorva so gefüllt, dass massiv Wasser durch die Luken abgelassen wurde. Und die Wasserfälle waren noch einmal in voller Pracht zu sehen.
Suorva
Der Suorva-Damm liegt nur wenige Kilometer weiter. Diesmal will ich den Weg über den Damm ausprobieren. Auf diese Weise können Wanderer auch ohne Boot das Seesystem überqueren und ins Fjäll gelangen, auf die südliche Seite des Nationalparks Stora Sjöfallet und in Richtung Sarek. Der Eingang befindet sich am Fuß des Dammes, wo auch der asphaltierte Weg verläuft. Das Tor ist für Fußgänger offen. Ich gehe die Flanke des Dammes aufwärts und sehe dabei die Relikte früherer Ausbaustufen. Das 67 Meter hohe und 1530 Meter breite Bauwerk nutzt eine natürlich vorhandene Felsnase. So konnte der Damm in insgesamt vier Stufen immer weiter ausgebaut werden. Anhand der abgeschliffenen Felsen versuche ich, den ursprünglichen Verlauf des Wassers zu rekonstruieren. Und dann bin ich auch schon drüben. Ich folge zunächst dem Verlauf des Weges und klettere dann auf den Hügel, auf dem auch ein Sendemast steht, um einen besseren Überblick zu bekommen. Da ich das ursprünglich gar nicht vorhatte, habe ich kein Proviant dabei. Aber die Blaubeeren warten ja nur darauf, dass ich zugreife. Ich esse sie schon aus Mitleid – sollen sie etwa am Strauch vertrocknen?
Deshalb hier ein Beeren-Exkurs von meinem Aussichts-Hügel. Die Preiselbeeren waren zu diesem Zeitpunkt noch nicht reif.
Von oben wird der Damm auch nicht schöner. Doch es steht mir nicht zu, über eine verloren gegangene Optik zu jammern. Den Preis für diesen Damm haben die Samen bezahlt, ohne je gefragt worden zu sein. Sie verloren Siedlungen, Weide- und Zugflächen für ihre Rentiere und der Fischfang veränderte sich komplett.
Doch der Stausee mit seiner Kapazität von fast 6 Kubikkilometern sichert Schwedens Einwohnern und der Industrie eine große Menge fossilfreien Strom das ganze Jahr über, auch die nächsten 100 Jahre. Mithilfe des Suorvadammes kann die Wasserkapazität im Flussystem so gesteuert werden, dass eine maximale Stromausbeute möglich ist. Ich muss das nicht schön finden. Aber es ist der Strom, den auch ich verbrauche, wenn ich mich an den Computer setze. Der hässliche Damm, in einer Zeit entstanden, als die Industrialisierung keine Grenzen zu kennen schien, erweist sich heute als ein Ass im Ärmel bei der Umstellung auf klimafreundliche Energieerzeugung: Wasserkraft kann die wetterbedingten Schwankungen von Solar- und Windenergie ausgleichen. Ich sehe aktuell keine Konzepte, die die Energiefrage mit weniger Nebenwirkungen lösen.
Überblick über alle Wasserkraftwerke am Luleälven (Quelle Vattenfall)
Ich setze meinen Weg Richtung Ritsem fort. Die kleine STF-Hütte Vákkudavárre steht einsam an der Straße. Hier endet oder beginnt der Kungsleden Richtung Norden. Vor der Hütte befindet sich auch die Bushaltestelle für die Verbindung nach Gällivare, der Bus verkehrt während der Saison einmal täglich. Der Tag endet mit Regenschauern. Ich übernachte kurz vor Ritsem auf einem Parkplatz mit Blick auf das Akka-Massiv, das sich noch in Wolken hüllt. Aber am nächsten Morgen dann das, worauf ich gehofft hatte: Strahlend blauer Himmel. Und die Akka-Gipfel sind sichtbar!
Ritsem Revisited
Bei einem solchen Wetter wäre in jedem anderen Hafen Betrieb. Nicht so in Ritsem. Geparkte Autos und an Land liegende Boote verweisen darauf, dass dieser Ort prinzipiell schon genutzt wird. Aber eben nicht gerade jetzt. Dass es die Menschheit noch gibt, verrät auch der mit lautem Getöse startende Helikopter von Fiskflyg vom Heliport gleich nebenan. Nachdem er ins Blaue verschwunden ist, ist wieder alles still.
MS Storlule liegt verlassen am Anleger, laut Fahrplan geht die erste Fahrt um 10.30 Uhr. Es ist also noch etwas Zeit. Jahrzehnte lang wurde diese Linie von STF betrieben. Der Verein hatte aber schon länger angekündigt, dies nicht mehr weiter betreiben zu wollen. Nun haben zwei Privatpersonen aus der Region das Schiff von STF gekauft und führt als Tjacko AB den Betrieb über den Akkajaure weiter (Kontakt: Storlule Baten). MS Storlule fährt zu den samischen Siedlungen Vaisaluokta (Vájsáluokta) und Änonjalme (Änonjálmme) auf der anderen Seite des Sees. Wanderer können dort Tagesausflüge unternehmen oder auf dem Padjelantaleden über Staloluokta durch den gleichnamigen Nationalpark nach Kvikkjokk laufen. Der Nordkalottleden aus Norwegen mündet bei Vaisaluokta in den Padjelantaleden. Wem die Abfahrtszeiten nicht passen, kann sich ein Bootstaxi rufen oder den Hufschrauber nehmen.
Ein Hafen an Land
Mich interessiert zunächst der Hafen, schließlich habe ich in der Vergangenheit viel Zeit in Häfen verbracht – auch in solchen mit großem Tidenhub. Es ist der merkwürdigste Hafen, den ich je gesehen habe. Bis auf MS Storlule liegen alle Boote an Land. Es sind typische Angelboote, die mit Außenbordern gefahren werden. Manche liegen etwas abseits, andere unter einem Seilsystem und direkt neben einem Schienenwagen, über den sie dann offenbar zu Wasser gelassen werden. Ich habe eine Vermutung, wie es funktioniert, hätte das aber gerne in Aktion gesehen. Spoiler: Es kam auch später niemand. Was man sich zusammenreimen kann: Der Schienenwagen wird über eine Seilwinde bedient, die sich in einer Umhausung befindet. Auch der Anleger von MS Storlule wird über eine Seilwinde an den Wasserstand angepasst. Die Einrichtung ist zweckmäßig: Wenn sich der Wasserstand über das Sommerhalbjahr um 30 Meter verändert – so viel Veränderung ist am Akkajaure genehmigt – kommt man mit Schwimmstegen und beweglichen Brücken nicht weit.
Akkajaure liegt in der morgendlichen Flaute still und glitzert in der Sonne wie ein normaler Bergsee. Perfektes Wetter für eine Fahrt über das Wasser. Und da kommen auch schon welche, die das auch finden und offenbar früh gestartet sind. Ich sehe, wie sie ihr Boot auf einen Hänger ziehen und mit dem Auto davonfahren. Es war ein recht kleines Boot. Ich denke an den gestrigen Tag, der windiger war, und an Tage, die noch viel windiger sein können. Auf dieser großen Wasserfläche baut sich garantiert eine hässliche Welle auf, und in einem kleinen Boot ist man dann nicht mehr sicher.
Unna Tjerusj Sameby nutzt Ritsem vor allem im Frühjahr, um die Tiere überwachen, die aus den Wäldern ins Fjäll ziehen und kalben. Doch jetzt gibt es anderswo zu tun. Ich gehe eine Runde durch den Ort, den Berg hinauf. Der Campingplatz ist voller Wohnwagen. Das nordwintertaugliche Pendant zum Vorzelt ist die Vorhütte, die haben dort alle. Bewohner sehe ich keine und auch keine Aufsicht: Für spontane Besucher ist der Platz nicht gedacht.
Viel Wasser, günstiger Strom
Im Frühjahr, so habe ich gelernt, soll der Wasserstand des Sees am tiefsten sein, denn da schafft Vattenfall Platz für das erwartete Schmelzwasser aus den Bergen. Im Herbst soll der Stausee dann mit Schmelz- und Regenwasser aus einem riesigen Einzugsgebiet gut gefüllt sein. Mir scheint, es ist schon soweit: Die viel beschriebenen hässlichen Ufer, die Wasserstandsänderungen bis zu 30 Metern verkraften müssen, sind gnädig von Wasser bedeckt.
Die Crew der MS Storlule trifft ein und bestätigt meinen Eindruck: „Der Wasserstand ist rekord-hoch für diese Jahreszeit“, so der junge Mann, der die Leinen bedient. Verwunderlich ist das viele Wasser nicht – im vergangenen Winter gab es auch außergewöhnlich viel Schnee. Freuen dürfte dies die nordschwedischen Stromkunden. Und nun wird es belebt, denn ein Grüppchen Touristen will an Bord. Darunter ein junges Paar, erfahrene Wanderer, die zum ersten Mal mit dem einjährigen Kind unterwegs sind. „Mal sehen, wie weit wir kommen“, sagt die Mutter entspannt. MS Storlule legt ab, und es wird wieder still. Nur zwei Deutsche sind noch im Hafen, Vater und Sohn, die mit ihrem Kanu ein bisschen am Ufer entlangpaddeln wollen. Heute ist ein guter Tag dafür.
Tourismus
Nicht alle haben Ritsem verlassen: Neben der STF-Hütte haben ein paar Wohnmobilisten geparkt und sitzen davor in der Sonne. Und auch der Hüttenwirt Greger Mellbert ist anwesend. Die STF-Hütte in Ritsem hat nur noch eine Woche offen, die Sommersaison neigt sich dem Ende zu. Sie verfügt über 14 Räume, bis zu 50 Betten und einen kleinen Laden, in dem man noch Lücken im Proviant oder in der Ausrüstung füllen kann. Draußen darf man auch sein Zelt aufstellen und dann die Gemeinschaftseinrichtungen nutzen. Stromanschluss gibt es allerdings nicht. Wer dies für seinen Wohnwagen oder sein Wohnmobil wünscht, muss in Stora Sjöfallet bleiben, wo es entsprechende Einrichtungen gibt.
Greger Mellbert ist „fjällvärd“ in Ritsem und fest angestellt bei STF, im Gegensatz zu einem ehrenamtlichen „stugvärd“ in einer Berghütte, der nur für eine begrenzte Zeit im Einsatz ist. Ritsem scheint mit seiner Straßen- und Busverbindung besser angebunden an den Rest der Welt, doch das habe seine Grenzen, berichtet Greger: Zwar ist es möglich, dorthin Post zu schicken, aber nicht jede Spedition liefert nach Ritsem. Immer wieder müssen Sendungen in Gällivare abgeholt werden – 180 Kilometer weiter. Hilfreich ist hier das gute Verhältnis zu den Busfahrern, die auch schon mal in Gällivare nach verschwundenen Sendungen fragen.
Ist Ritsem nun ein Ort, an dem alle nur umsteigen und in dem keiner bleibt? Fast. Die Sommertouristen kämen und gingen meist im Takt von Bus und Schiff, berichtet Greger: „Ritsem ist ein Knotenpunkt“. Mehr als die Hälfte ist normalerweise aus dem Ausland, vor allem aus Deutschland oder den Niederlanden. Im Corona-Sommer 2020 waren dies allerdings nur wenige. Im „Vårvinter” (März bis Mitte April) kämen viele Finnen und Norweger und blieben meist ein paar Tage. Sie fahren mit dem Schneemobil hinauf zu den Bergseen, um vom Eis aus zu angeln. „Es gibt hier sehr gute Fischgewässer“, versichert Greger. Und in Schweden seien die Vorschriften für Schneemobile lockerer als in den Nachbarländern. In Laponia dürfen Touristen zwar nicht Schneemobil fahren, außer auf einer festgelegten Trasse Richtung Nikkaluokta. Doch außerhalb des Welterbe-Gebietes ist es erlaubt, und Ritsem befindet sich genau an der Grenze.
Wege, die von Ritsem fortführen
Noch haben wir Sommer und der Blick von der STF-Hütte über den See zu Akka könnte kaum besser sein. Ein kleines Stück weiter steht das Schild, das den Weg zu den Sitasjaurehütten weist, 20 Kilometer. Sommers wie winters nutzbar. Als Wanderer darf man Vattenfalls Schranke auf dem Weg umgehen. Von dort kommt man laut Karte auch weiter zur Singi-Hütte auf dem Kungsleden und nach Nikkaluokta. In Ritsem beginnt auch der „Gränsleden“ – der Fußweg nach Norwegen. Nach 62 Kilometern landet man in Sørfjorden in der Kommune Tysfjord, Gällivares norwegischer Partnerkommune. Ein Weg für die nächste Corona-Welle, ganz ohne Grenzkontrollen?
Mehr noch als das Ziel lockt mich der Weg: Ich habe nun genug Staudämme und Strommasten gesehen. Nun würde ich es gerne allen anderen nachmachen, die hier ankommen und weiterreisen – in den Teil der Bergwelt, der noch nicht verunstaltet ist. Ich werde also wiederkommen.
Wege im Tal des Stora Luleälven nach und von Saltoluokta, Stora Sjöfallet und Ritsem: Ankommen und Umsteigen
Der Weg nach Ritsem im April: Luleälven – Leben an der fließenden Batterie
September 2020. Text und Fotos Andrea Seliger