Klimaforschung in Abisko: Die Zeitmaschine am Nuolja

(Schweden, September 2019) Es ist Ende der Schmelzsaison, und die felsige Nordspitze des Kebnekaise hat die vergletscherte Südspitze als höchsten Gipfel Schwedens abgelöst. Erstmals wurde dies 2018 gemeldet, diese Messung gilt jedoch als unzuverlässig. Im Winter baute der Gletscher wieder auf. Doch nun ist es ein Fakt: Die Nordspitze mit 2096,8 Metern ist 1,2 Meter höher als die Südspitze. Und der nächste Winter wird dies höchstens kurzfristig noch einmal ändern.

Andrea am Nuolja

Blick vom Nuolja auf den Torneträsk

Ein Stück weiter nördlich, bei Abisko, liegt der etwas weniger bekannte Berg Nuolja. Mit 1169 Metern ein typisch schwedisches Fjäll. Skifahrer und Nordlichtjäger schätzen seinen Sessellift und die Aurora Sky Station. Was die Bedeutung des Nuolja für die Klimaforschung ausmacht, liegt im gut gesicherten Archiv der Forschungsstation von Abisko: detaillierte Aufzeichnungen des Botanikers Thore C. Fries über die Beobachtungen an seinem Hang von 1917 bis 1919. Seit 2017, also genau 100 Jahre später, dokumentieren Keith Larson und sein Team erneut das Geschehen entlang Thore Fries‘ altem Pfad. Es wird niemanden verwundern, dass sie Veränderungen vorfanden. Zeit für einen Ortstermin im Frühherbst in Abisko.

Messdaten aus Abisko – seit 1913

Keith Larson, Koordinator des Climate Impacts Research Center in der Forschungsstation von Abisko, ist ein gefragter Mann, wenn es um Zahlen, Fakten und Zusammenhänge zum Klimawandel geht. Gerade hat SVT eine Reportage mit ihm gedreht, jetzt sind die Kollegen von TV4 vor Ort. Der gebürtige Amerikaner, Jahrgang 1968, ist Evolutionsökologe. Er hat die Folgen des sich verändernden Klimas auch schon in den Tropen beobachtet, bevor er nach Abisko kam. Hier kann er sich auch auf die detaillierten Wetterbeobachtungen stützen, die seit dem Bau der Station 1913 kontinuierlich gesammelt wurden. Sie liegt am Ufer des Torneträsk, Schwedens „Sjumilasjön“ (70 Kilometer lang), dessen Eis immer später kommt und immer kürzer liegen bleibt.

Keith Larson

Keith Larson mit der Originalausgabe von Thore C. Fries Veröffentlichung.

Und sie liegt am Fuß des Nuolja. „Die Baumgrenze hat sich in den vergangenen 100 Jahren 230 Meter den Hang hinauf bewegt“, sagt Larson. 230 Meter am Hang entsprechen dort 30 Höhenmetern. Das ergibt der Vergleich mit Thore Fries‘ Aufzeichnungen, man kann es auch beim Vergleich alter und neuer Fotos sehen. „Fingerprints of Change: Abisko plants and phenology“ heißt das Projekt.

Abiskos Wetterdaten zeigen: „Bis 1989 gab es kalte und warme Jahre. Seit 1989 gibt es nur noch warme Jahre. Die Wachstumsphase hat sich um vier Wochen verlängert. Die Durchschnittstemperatur in Abisko ist seit 1913 um 1,7 Grad gestiegen.“ 1,7 Grad bedeuten in Abisko den Unterschied zwischen Frost und Tauwetter. Der Jahresdurchschnitt liegt nicht mehr unter 0 Grad.  Damit gilt Abisko jetzt nicht mehr als arktisches Gebiet.

Lapporten Herbst

Lapporten/Čuonjavággi

Keith Larson spricht nicht nur mit Kollegen, Studenten und mit der Presse, er hält auch Vorträge vor Schülern. „Was bedeutet es, wenn die Baumgrenze den Berg hinauf wandert? Wachsen Berge? Nein, natürlich nicht. All die Pflanzen und Tiere, die auf diese Zone oberhalb der Baumgrenze spezialisiert sind, werden immer weiter Richtung Gipfel gedrängt. Und wenn kein Platz mehr ist für sie, sterben sie aus.“ Wandern auf dem Kungsleden, dem berühmtesten Pfad Schwedens, werde zu Wandern im Wald – „es bleibt nicht viel Fjäll übrig“. Und wer dann vor die Tür des Vorlesungssaales tritt und hinübersieht zu Lapporten, samisch Čuonjavággi, dem Wahrzeichen Lapplands, fragt sich: Wie sähe Schwedens berühmteste Felsformation aus, würden dort Bäume wachsen?

Auf dem Pfad des Thore C. Fries

Thore Fries Pfad

Auf dem Pfad ders Thore C. Fries. Die Gewächse, die besonders dokumentiert werden, sind markiert.

Der Pfad der Thore Fries ist kein offizieller Wanderweg für Touristen. Er zweigt ab von der Schotterstraße, die zur Talstation des Liftes führt und ist markiert durch Holzpfähle mit Logo. Einzelne Pflanzen sind mit Bändern markiert, an anderer Stellen stehen Stäbe im Boden. Diese werden im Rahmen des Projektes in ihrer Entwicklung dokumentiert und man passiert sie besser vorsichtig. Als Thore Fries hier auf und abging, gab es noch nicht den Sessellift. Bei Starkwind, so wie heute, muss man sich sowieso auf die eigenen Füße besinnen, dann geht der Lift nicht. Aber der Boden des lichten Birkenwaldes ist bedeckt von Preiselbeeren, Blaubeeren und Krähenbeeren – Wandern im Frühherbst wird belohnt.

Baumgrenze am Nuolja

Die Baumgrenze am Nuolja.

Die Baumgrenze verläuft heute ungefähr dort, wo auch die Zwischenstation des Liftes liegt. Plötzlich ist Schluss mit Birken und Beeren. Die Weidenbüsche sind aber noch recht üppig. Nicht unwahrscheinlich, dass die Birken auch bald nachrücken. Der Buschgürtel ist breit. Ich bin vielleicht noch 200 Meter von der Liftstation entfernt, als die Vegetation auf Knöchelhöhe schrumpft, mit wenigen Ausnahmen. Die Liftstation mit der Aurora Sky Station liegt auf 900 Metern Höhe. Bei 1169 Metern ist der Berg zu Ende. Der Nachbargipfel Slåttatjåkka bringt es auch nur auf 1191 Meter.

Die Regenwolke zieht vorbei.

Noch habe ich von hier oben eine phänomenale Aussicht über den Torneträsk und ein Stück entlang des Abiskojåkka, dem der Kungsleden folgt. Abgesehen von einer Regenwolke. Kein Baum versperrt mir die Sicht und die Konturen von Lapporten sind scharf und klar.

Was genau machte dieser Thore Fries eigentlich? Drei Jahre lang lief er alle fünf Tage den Nuolja hinauf. Die 3700 Meter lange Strecke wurde in  45-Meter-Abschnitte geteilt, mit Pfählen markiert und jede Beobachtung dort festgehalten – von den einzelnen Wachstumsstadien der Pflanzen bis zur Schneetiefe.  Denn eines seiner Ziele war auch, den Einfluss der Schneeschmelze auf die Pflanzengesellschaften zu untersuchen. Diese drei Jahre waren durchaus unterschiedlich. Seine Auswertung wurde 1925 in Uppsala veröffentlicht, auf Deutsch übrigens, der damaligen Sprache der Wissenschaft. Für Keith Larson sind diese akribischen Aufzeichnungen wie eine Zeitmaschine – eine einzigartige Möglichkeit, heutige Funde mit solchen aus einer Zeit zu vergleichen, in der der menschliche Einfluss auf das Klima sich noch nicht auswirkte. Die vollständige Auswertung der Ergebnisse steht noch aus, noch wird gesammelt.

Studentenhilfe und Bürgerforschung

Schwedischer Hartriegel

Dekorativer Schwedischer Hartriegel

Um herauszufinden, was wann wo wächst am Nuolja, sind nicht nur Wissenschaftler und Studenten auf dem Pfad unterwegs. Damit die Daten des Pfads mit anderen im Bereich Abisko abgeglichen werden können, hofft Keith Larson auch auf die Hilfe von Bergwanderern. Dafür wird eine Möglichkeit genutzt, die Thore Fries noch nicht zur Verfügung stand: Wanderer machen ein Foto mit ihrem Smartphone und senden es über die App iNaturalist in die Datenbank. Diese App funktioniert weltweit, die abgebildete Pflanzen- oder Tierart wird von Fachleuten bestimmt, bevor es freigegeben wird. So weiß der Nutzer sicher, was ihm da begegnet ist.

Verbuschung

Erste Verbuschung am Hang des Nuolja.

Um Abisko gibt es einen „Geozaun“ – alle Fotos von dort landen auch automatisch beim Projekt, es sei denn, der Anwender hat diese Option abgelehnt. Auf Aushängen am Lift, in der STF Turiststation und im Naturum in Abisko wird darauf hingewiesen. Solche Bürgerforschung (Citizen Science) werde normalerweise dort eingesetzt, wo Menschen etwas in der Nähe ihres Wohnortes beobachten könnten, sagt Larson. Wer zum Wandern nach Abisko kommt, reist aber früher oder später auch wieder ab. Der Einsatz dieses Mittels ist deshalb ein Experiment für sich. Aktuell wurden zwar 3000 Beobachtungen in den Bereich eingespeist, doch die Zahl relativiert sich, wenn man weiß, dass 1000 davon von Keith Larson selbst sind. Es gehört allerdings ausdrücklich zu seinem Ansatz, die Öffentlichkeit mitzunehmen – und Bürgerforschung ist ein Teil davon.

Der Kohlenstoff im Permafrost

Zum Vortrag vor Schülern gehört auch der komplizierte Teil über die Folgen eines wärmeren Klimas für heutige Permafrostböden. Solche gibt es auch in Schweden, und dazu wurden und werden in der Umgebung von Abisko wissenschaftliche Versuche durchgeführt.  Problematisch ist vor allem der gefrorene Torf, abgestorbene, aber nicht vollständig zersetzte Pflanzenreste. Früher taute davon nur eine dünne Schicht vorübergehend im Sommer auf und ließ oberflächliches Pflanzenwachstum zu. Weltweit ist in Permafrostböden noch doppelt so viel Kohlenstoff gebunden wie die Menge, die in der Atmosphäre vorkommt.

Forschungsstation Abisko

Forschungsstation Abisko

Die Forschung in Abisko untersucht, wie verschiedene Faktoren beim Tauprozess zusammenwirken. So führt Verbuschung zu einem wärmeren Boden, weil der Schnee dort nicht mehr weggeweht werden kann und isoliert. Eine andere Studie zeigte, dass auch kleinere Schmelzwassertümpel signifikant dazu beitragen, dass der Kohlenstoff als CO2 oder Methan entweicht. Bis 2050 erwarten konservative Prognosen, dass 13 Prozent des Permafrostbodens getaut sind. Bis zu 28 Prozent seien jedoch durchaus möglich, so Larson. Krater im Boden in Sibirien oder Kanada zeigen, dass dieser Prozess längst begonnen hat.

Schulstreiks als Zeichen der Hoffnung.

Keith Larson sieht aber nicht nur seine Messwerte und Modelle. Er plädiert leidenschaftlich für soziale Gerechtigkeit als Voraussetzung zur Lösung der Klimakrise, und speziell für Bildung und Selbstbestimmung von Frauen weltweit. Dadurch verringere sich auch das Bevölkerungswachstum. „Wenn wir zusammenarbeiten, können wir viel erreichen.“ Die Hoffnung des Klimaforschers liegt auf den jungen Leuten, den Schulstreikern. Daran hat er möglicherweise auch seinen Anteil. Greta Thunberg, so berichtet er, war auch in Abisko. Das war in den Sommerferien 2018. Sie kam mit Bekannten. „Very smart“ , erinnert sich Larson an das Gespräch mit ihr. Zu Beginn des neuen Schuljahres begann sie mit ihrem „Skolstrejk för klimatet“. Als Larson davon hörte, konnte er sich zunächst nicht vorstellen, dass das irgendwas bewirken könnte: „Ich bin froh, dass ich mich geirrt habe.“

Text und Bilder Andrea Seliger, September 2019

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