(Schweden/Finnland, Oktober 2019) Wer im finnischen Kvarken-Archipel in der nördlichen Ostsee mit dem Boot unterwegs ist, hält sich am besten genau ans Fahrwasser und benutzt die neuesten Seekarten.
”Besonders bei niedrigem Wasserstand kann es passieren, dass die Schraube einen „neuen“ Stein berührt, der vorher gar nicht oder in älteren Karten in größerer Tiefe eingezeichnet war“, warnt Peter Edén. Der pensionierte Geologe kennt Kvarken bestens aus seiner beruflichen Tätigkeit für die finnische Geologie-Behörde GTK. Dort wächst das Land jährlich um eine Fläche von insgesamt mehr als 100 Fußballplätzen: Buchten verlanden, neue Inseln entstehen.
Schräg gegenüber, am schwedischen Ufer etwas weiter südlich, sieht die Landschaft ganz anders aus: Statt flacher Inseln findet man dort eine vergleichsweise hohe und steile Küste, die auch tief ins Meer abfällt.
Beiden gemeinsam ist ihr Drang nach oben. Der Skuleberget, ein 295 Meter hohen Felsen mit markantem Profil direkt neben der E 4 bei Docksta, war vor 10 000 Jahren nur eine kleine Insel in der Ostsee. Das Phänomen nennt sich „postglaziale Landhebung“, ist ein Erbe der letzten Eiszeit und im gesamten nördlichen Ostseebereich spürbar. Weil es bei Kvarken und der schwedischen Höga Kusten zwischen Härnösand und Örnsköldsvik sehr stark ist und die verschiedenen Spuren der Eiszeit dort so gut zu sehen sind, bilden die beiden Gebiete ein gemeinsames Unesco-Weltnaturerbe. Das Land hebt sich dort mit etwa acht Millimetern pro Jahr.
Verschwindet das Wasser oder hebt sich das Land?
Die früheren Küstenbewohner konnten sich auf dieses Phänomen lange keinen Reim machen. Häfen mussten verlegt werden, aus Meeresbuchten wurden Binnenseen – Luleå wurde einige Kilometer weiter neu gegründet, weil die Schiffe nicht mehr in den alten Hafen kamen. Die erste bekannte Theorie dazu kam von der Kirche – die „Sintfluttheorie“: „Danach lebte man in einem Zeitalter nach der Sintflut, in der sich das Wasser zurückzieht“, berichtet Kenth Nedergård, Leiter des Welterbezentrums Kvarken auf der finnischen Insel Replot. Der schwedische Wissenschaftler Anders Celsius (1701-1744) glaubte ebenfalls an „Wattuminskning“, an verschwindendes Wasser.
Immer mehr Fachleute kamen danach zwar auf die richtige Spur und trugen Puzzleteile zur Lösung des Rätsels bei. Doch es dauerte bis ins 19. Jahrhundert, bis diese Erkenntnisse sich offiziell durchsetzen konnten: „Es war ein Streit zwischen Kirche und Wissenschaft“ , erklärt Anna Carlemalm, Leiterin des Naturum Höga Kusten in Docksta.
So wird die Landhebung heute wissenschaftlich begründet: Der schwere Eispanzer der letzten Eiszeit (Weichsel-Eiszeit) hatte die Erdkruste in den zähflüssigen Erdmantel gedrückt. An der mächtigsten Stelle war er drei Kilometer dick – und die lag südlich des heutigen Umeå. Nach dem Abschmelzen setzte ein Umkehrprozess ein, anfangs schneller, später langsamer. Seit etwa 10 000 Jahren ist das letzte Eis verschwunden, doch die Erdkruste ist immer noch dabei, sich „auszubeulen“. „Das Phänomen wird noch mehrere Tausend Jahre andauern“, so Ozeanograf Ola Kalen vom Schwedischen Meteorologischen und Hydrologischen Institut (SMHI) in Stockholm.
Dort, wo die stärkste Landhebung stattfindet, kommen sich die schwedische und die finnische Küste auch besonders nah. Frühere Theorien sahen Schweden und Finnland dort bereits zusammenwachsen und den nördlichsten Teil der Ostsee, die Bottenwiek, zu einem Binnensee werden.
Steigendes Land, steigender Meeresspiegel
Angesichts des Klimawandels und eines steigenden Meeresspiegels steht dies inzwischen in Frage. Das SMHI gibt Küstenprognosen bis 2100 heraus, die drei verschiedene Szenarien vorsehen. Während Südschweden den steigenden Meeresspiegel auf alle Fälle merken wird, bleibt die Region mit der stärksten Landhebung, etwa von Umeå bis Örnsköldsvik, davon noch unberührt. „Im Szenario mit hohen Emissionen jenseits 2100 werden aber auch diese Gebiete betroffen sein“, so Ola Kalen.
Seine Kollegen in Finnland rechnen ebenfalls mit verschiedenen Varianten bis 2100: „Für Vaasa, eine Küstenstadt in der Kvarken-Region, prognostiziert das durchschnittliche Szenario ein Absinken des Meeresspiegels um etwa 30 Zentimeter“, erklärt Milla Johansson vom Finnischen Meteorologischen Institut. Die höchsten Szenarien sähen aber selbst für Vaasa 20 Zentimeter Meeresspiegel-Anstieg vor. Dann würden auch die neuen Inseln des Kvarken-Archipels teilweise wieder verschwinden – erst recht, wenn nach 2100 das Meer weiter steigt.
Auf den Spuren der Landhebung
Die Folgen der Landhebung sind im gesamten nördlichen Ostseeraum zu beobachten – und darüber hinaus. Kommt mit auf die Reise:
Eine erste Version dieses Textes wurde im März 2019 auf der Ostseeseite der Kieler Nachrichten veröffentlicht. Der Text wurde im Oktober 2019 überarbeitet, erweitert und an dieser Stelle veröffentlicht. Die meisten Fotos sind vom September 2019, einzelne von Höga Kusten auch vom Oktober 2018. Die Fotos aus Alta sind vom Juli 2017. Alle Texte und Bilder von Andrea Seliger.