Rezension: „Das Leuchten der Rentiere“ von Ann-Helén Laestadius

Wenn alle im Dorf wissen, wer nachts Rentiere tötet, und es ist ihnen egal. Auch der Polizei. Wenn man neun Jahre alt ist und es sogar gesehen hat, aber man darf nichts sagen, weil man fürchtet, dann umgebracht zu werden. Ann-Helén Laestadius‘ „Das Leuchten der Rentiere“ erzählt eine Geschichte aus Sápmi, dem Land der Samen, so weit weg vom Touristen-Klischee, wie es überhaupt möglich ist. Heute erscheint das Buch auf Deutsch.

Stöld

Ann-Helén Laestadius: Das Leuchten der Rentiere“

Im Fokus der Geschichte steht Elsa, anfangs neun Jahre alt, irgendwo in Schwedisch-Lappland. Robert Isaksson heißt der Mann, der ihr Renkalb getötet hat, aber sie muss schweigen, auch wenn es immer wieder tote Tiere gibt. Isaksson und sein Geschäftspartner töten nicht nur, um an Fleisch zu kommen, sie quälen gern Rentiere und filmen das sogar. Wer glaubt, das sei weit hergeholt und entspringe der Fantasie der Autorin, darf gerne einen Blick in Nachrichten aus der Region werfen. Gerade erst bestätigte die zweite  Instanz das Urteil gegen einen Lkw-Fahrer, der eine ganze Herde auf der Straße vor sich her gehetzt und dabei gefilmt hat. Das Programm „Kalla Fakta“ von TV4 berichtete von 38 nicht aufgeklärten Fällen von Tierquälerei und Wilderei innerhalb weniger Jahre. Und das sind nur die Dinge, die bekannt werden.

Dabei geht es eigentlich nicht um die Rentiere an sich. Hass und Verachtung gegenüber den Samen gibt es keineswegs nur in den Geschichtsbüchern. Wie das unterschwellig den Alltag prägt und was das mit den Menschen macht, vermittelt Laestadius sehr überzeugend. Ist es wirklich nur der Personalmangel der Polizei in einem riesigen Gebiet, der es so unmöglich macht, überhaupt am Tatort zu erscheinen?  Gleichzeitig ist auch ihre Schilderung der samischen Rentierhalter-Gemeinschaft ohne romantische Verklärung. Elsa ist darin tief verwurzelt und entscheidet sich letztlich bewusst für diese Lebensform, aber sie erkennt auch die Grenzen und Probleme. Als Frau hat sie nichts zu sagen, ihre Mutter wird immer noch als „Rivgu“ ausgegrenzt, weil sie nicht aus einer Rentierhalterfamilie stammt. Und warum bringen sich so viele junge samische Männer um?

Persönliche Geschichte vor konfliktreichem Hintergrund

„Das Leuchten der Rentiere“ ist überzeugend, weil es stets bei seinen Personen bleibt. Man hätte auch weiter ausholen können. Die Nutzungskonflikte um das Land zwischen Rentierhaltung, Freizeitaktivitäten, Tourismus, Bergbau und Energieerzeugung spitzen sich eher zu, als dass sie abnehmen. Die Chancen auf Lösungen, mit denen alle zufrieden sind, stehen schlecht. Die kann auch Ann-Helén Laestadius nicht anbieten – und das wäre auch etwas viel verlangt. Ihr Verdienst ist es, dem abstrakten Wissen um diese Konflikte diese persönliche Perspektive und damit ein besseres Verständnis dafür hinzuzufügen. 

Ann-Helén Laestadius, Jahrgang 1971, ist in Kiruna geboren, ihre Mutter stammt aus einer Rentierhalterfamilie. Sie selbst ist Journalistin und hat mehrere Jugendbücher geschrieben. „Das Leuchten der Rentiere“, schwedischer Originaltitel „Stöld“, ist ihr erster Roman für erwachsenes Publikum.  Das Buch ist bei Hoffmann und Campe erschienen. Übersetzt wurde es von Maike Barth und Dagmar Mißfeldt.

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