Rezension: „Die Zeit im Sommerlicht“ von Ann-Helén Laestadius

Wer schickt sein Kind mit sieben Jahren ins Internat, wo es nicht mal seine Sprache sprechen darf? Samische Eltern in Nordschweden hatten früher keine Wahl. Und so kommen auch Else-Maj, Marge, Anne-Risten, Nilsa und Jon-Ante, die Hauptfiguren aus Ann-Helén Laestadius‘ neuem Roman „Die Zeit im Sommerlicht“, in den 1950er Jahren auf die „Nomadenschule“, wie es damals hieß. Diese Zeit prägt alle tief – und das ist nicht positiv gemeint. Das Buch ist seit heute auf Deutsch erhältlich.

Buchtitel

Ann-Helén Laestadius: Die Zeit im Sommerlicht

Es ist nicht erwünscht, dass im Internat „Lappisch“ gesprochen wird, und „Hausmutter“ Rita Olsson setzt dies notfalls mit der Rute durch. Rita Olsson ist nicht nur streng, sie ist böse – aber sie ist auch einfach Teil eines System und einer Gesellschaft, in der Samen als minderwertig angesehen werden. Deshalb muss man sich auch nicht um Mobbing unter den Schülern kümmern. Betreuerin Anna ist der Gegenpol, bei der die Kinder Trost finden können, aber auch sie hat Angst vor der Hausmutter – und muss schließlich die Schule verlassen, den Grund erfahren wir erst zum Schluss.

30 Jahre nach Ende der Schulzeit sind Else-Maj, Marge, Anne-Risten, Nilsa und Jon-Ante sehr unterschiedliche Wege gegangen, aber niemand von ihnen hat Rita Olsson vergessen. Die plötzlich wieder auftaucht und starke Gefühle weckt.

Basierend auf Erfahrungen von Laestadius‘ Mutter

„Die Zeit im Sommerlicht“ ist Fiktion, basiert aber auf den Erfahrungen von Laestadius‘ Mutter, die eben diese beschriebene Nomadenschule im nordschwedischen Lannavaara (samisch Láttevárri) besucht hat. Der Umgang mit den samischen Kindern, die zwar einerseits nach der schwedischen „Lapp-skall-vara-lapp“-Politik „Lappen“ bleiben sollten, denen andererseits aber ihre Sprache genommen wurde, ist ein dunkles Kapitel in der samisch-schwedischen Geschichte, das lange auch nicht allzu bekannt war. Es reiht sich ein in Grausamkeiten gegenüber der Urbevölkung anderswo, an die Gräber an kanadischen Internaten für Indigene oder die grönländisch-dänischen Experimentkinder. Stolz auf das samische Erbe? Anne-Ristens Tochter möchte lieber nicht, dass ihre Schulfreundin überhaupt davon erfährt.

Grausamkeiten und Freundschaften

Der klug aufgebaute Roman enthüllt die Geschichte Stück für Stück, aus verschiedenen Perspektiven, und wechselt dabei zwischen den 1950ern und den 1980ern hin und her. Die Grausamkeit der Hausmutter, aber auch das Mobbing, sind schon beim Lesen schwer zu ertragen. Lichtblicke sind die menschlichen Bindungen, die trotzdem entstehen. Und wir gewinnen einen Einblick in den samischen Alltag, der mit Wärme geschildert wird, mit seinen Traditionen, Verpflichtungen und Glücksmomenten.

Sprachenvielfalt ist Alltag

Die Übersetzung von Maike Barth und Dagmar Mißfeldt behält wie das schwedische Original viele samische Ausdrücke bei, außerdem ein paar schwedische und finnische. Oft kann man am Zusammenhang erraten, was sie bedeuten, notfalls gibt es ein Glossar. Das mag manche im Lesefluss stören, aber es spiegelt genau die Sprachenvielfalt wider, die in dieser Region zwischen Kiruna und Karesuando eben herrscht.

Trauma der Schulzeit für Jahrzehnte

Ann-Helén Laestadius ist es mit diesem Buch nach „Das Leuchten der Rentiere“ erneut gelungen, ein eher totgeschwiegenes Thema aus Sápmi ans Licht zu holen. Sehr glaubwürdig schildert sie, wie das Trauma der Schulzeit noch Jahrzehnte nachwirkt. Manches lässt sich nicht wieder gutmachen. Aber von unerwarteter Seite kommt auch ein Weg zur Bearbeitung.

Ann-Helén Laestadius: Die Zeit im Sommerlicht. Titel des schwedischen Originals: Straff. Übersetzung aus dem Schwedischen von Maike Barth und Dagmar Mißfeldt. Hoffmann und Campe Verlag, ISBN: 978-3-455-01708-3

Laestadius früherer Roman, „Das Leuchten der Rentiere“, ist inzwischen verfilmt und wird ab 12. April auf Netflix zu sehen sein (schwedisches Original unter dem Titel „Stöld“, englisch „Stolen“.

 

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