Fünf Jahre Gletscherleben: Engabreen Revisited

Im Juli 2019 besuchte ich erstmals Engabreen, einen Auslassgletscher des großen Svartisen in der Kommune Meløy. Fünf Jahre und ein paar Wochen später, Anfang September 2024, kehrte ich dorthin zurück: Was hat sich getan? Leider ist es so: Die Zahlen lügen nicht. 

Schiff, Fjord, Berg und Gletscher im Hintergrund

Holandsvika. Von hier aus startet der rot-weiße „Isprins“ über den Fjord.

Meine Ankunft in Holandsvika könnte besser nicht sein: Die Sonne scheint, der Himmel ist blau. Als ich aus dem Bus aussteige, ist die Gletscherzunge zunächst vom Nebel verborgen. Mehr kann man auf den neuen Infoschildern am Fähranleger sehen und lesen. Eine Grafik zeigt, wie sich die Gletscherzunge in den vergangenen Jahrhunderten verändert hat, von 1723, als sie noch fast bis zum Fjord reichte, bis 2020 – aber auch das ist ja jetzt schon Geschichte.

Karte Gletscherfront

Änderung der Gletscherfront seit 1700. Ausschnitt eines Schildes am Fähranleger Holandsvika.

Als ich 2019 an einer Gletscherwanderung teilnahm, hatte uns unser Guide Øyvind gezeigt,wo die Gletscherfront nur ein Jahr vorher anfangs verlief. Im warmen Sommer 2018 hatte sie sich um 140 Meter zurückgezogen. Ganz so extrem waren die folgenden Jahre nicht, aber auf der Webseite der norwegischen Gewässer- und Energiebehörde (NVE) konnte ich es schon nachlesen: Zwischen meinen beiden Besuchen war die Gletscherzunge um weitere 238 Meter kürzer geworden. Es war also nie eine Frage, „ob“ sich vor Ort etwas verändert hat, sondern nur, „wie sehr“ man es merken würde.

Lockruf des Eises

Gletscher

Mit dem Schiff auf dem Weg zum Engabreen.

Der Nebel lichtet sich, während ich auf die Fähre warte. Da ist er, Engabreen, Svartisen, oder zumindest das Stück, das man vom Fylkesvei 17 aus sehen kann. Die charakteristische Gletscherzunge, leicht bläulich schimmernd. Ein Bild, das Autofahrer auf den Parkplatz fahren lässt. Und nicht wenige versuchen, spontan eine Tour über den Fjord zu buchen, um diesem Stück Eis noch näher zu kommen. Nirgendwo in Festland-Europa reicht eine Gletscherzunge so tief.

Eis, Wasser und Fels

Ein Wasserfall aus Schmelzwasser hoch oben.

Dass es schon Anfang September ist, merkt man dem Tag nicht an, außer vielleicht durch den Sonnenstand. Als wir dann mit dem “ Isprins“ über den Holandsfjord fahren, sehe ich, wie in ein paar hundert Metern Höhe das Schmelzwasser als Wasserfall den Berg hinunter stürzt. Ich sehe es mit bloßem Auge, und das Teleobjektiv holt es noch näher heran.

Dass es September ist, hat es für mich etwas kompliziert gemacht: Der Busfahrplan richtet sich nach Schülern, nicht nach Touristen. Die Fähre über den Fjord fährt nur noch Freitag bis Sonntag, es sei denn, man bucht eine Privattour. Brestua, die „Gletscherstube“, Lokal, Touristinfo und Anlaufpunkt für alles, was auf diesem Stück Land unterhalb der Gletscherzunge passiert, öffnet nur noch Samstag und Sonntag. Mein Plan ist, bei Brestua zu zelten und am nächsten Tag Richtung Gletscherfront hochzugehen. 

Am Fuße des Gletschers

Hütte vor Berg-Hintergrund

Brestua

Auf der anderen Seite des Fjords sieht es mehr oder weniger aus, wie ich es in Erinnerung habe. Während die Tagesausflügler versuchen, in den drei Stunden bis zur letzten Fähre noch schnell Richtung Gletscher zu kommen, bin ich mit meinem schweren Gepäck etwas langsamer, aber ich habe ja auch Zeit. Als ich nach 1,2 Kilometern bei Brestua ankomme, setze ich mich erstmal in Ruhe auf eine dieser Picknickbänke am Ufer der Lagune und genieße das Bild, das sich mir bietet. Das Noch-Grün der Bäume, die türkise Lagune, das etwas schmutzig wirkende Eis. 

türkises Wasser, halber Baum, Gletscher im Hintergrund

Die Gletscherlagune, Engabrevatnet

Brestua ist wie angekündigt geschlossen, aber die Toiletten samt Waschbecken sind wie versprochen zugänglich, und das macht doch alles gleich viel einfacher. Ich baue mein Zelt ein Stück abseits auf, damit es den Tagestouristen morgen nicht so ins Auge fällt. Offenbar bin ich um diese Jahreszeit die einzige Camperin. Nachdem die letzte Fähre gefahren ist, treffe ich nur noch die eine Gruppe, deren Kursleiterin ich vorher am Steg kennengelernt habe. Aber die schlafen in Hütten. Ganz allein sind wir natürlich nicht: Auf diesem Streifen Land zwischen Fjell und Fjord gibt es unter anderem einen landwirtschaftlichen Betrieb, dessen Kühe überall herumlaufen. Ich bin allerdings optimistisch, dass sie an mir nicht interessiert sind.

Man könnte meinen, dass es nun besonders still wäre, aber so ist es nicht. Das Wasser, das von oben in unzähligen Bächen und Wasserfällen herunterstürzt, bildet ein permanentes Hintergrundgeräusch, das nur manchmal von etwas anderem unterbrochen wird. Zum Beispiel von einer Kuh, die sich mitteilen will. Oder vom Regen, der nachts anfängt, auf mein Zelt zu prasseln. 

Zum Gletscherrand

Dreieckiges Schild

Das erste Warnschild steht am Ende des ausgebauten Weges

Ich bin vorgewarnt. Gerade erst hatte NRK einen Bericht über den Engabreen gebracht. Der Glaziologe Hallgeir Elvehøj vom NVE war für die jährliche Messung vor Ort gewesen und etwas entsetzt darüber, wie nahe Touristen an die Eisfront gingen. Außerdem von seinem Ergebnis: Er sagte zu NRK, zum ersten Mal sei aller Winterschnee weggeschmolzen. Acht Meter in nur drei Monaten. Dabei sei Engabreen der Gletscher in Norwegen, der bisher noch am besten weggekommen sei.

Tatsächlich rückt die Gletscherfront zwar ständig weiter zurück, aber es gab immerhin immer wieder Jahre, wo zumindest die Massebilanz mal positiv war – weil oben in 1000 Metern Höhe mehr Niederschläge fielen, dort als Schnee. Die letzte (knapp) positive Massebilanz war 2022.

Markierung, blanker Fels, im Hintergrund Eis

Varden auf 168 Meter Höhe. Vor fünf Jahren endete hier der markierte Weg.

Der erste Teil des Weges zum Gletscher ist bequem und ausgebaut, danach geht es recht steil bergauf über, meist über glatten Fels. Es strömt noch massenhaft Wasser den Berg hinunter, das Wasser bleibt das permamente Hintergrundgeräusch. Und dann erreiche ich die den Steinhaufen «Varden» auf 168 Metern Höhe. Vor fünf Jahren war dies das Endziel des markierten Weges. Bis zum Gletscherrand war es auch damals noch ein gutes Stück. Heute geht der markierte Weg noch weiter bergauf.

Dreieckiges Schild, dahinter Eis

Ende des markierten Weges

Dabei gibt es inzwischen noch ein neues Ziel: Svartisgryta. Eine Art Natur-Whirlpool, allerdings kalt. Eins der Becken, die Wsser und Eis ausgegraben haben, und die nun frei liegen. Ich habe gehört, dass man nun darin badet. Ich sehe die äußere Öffnung, aber ich will jetzt nicht baden, sondern das letzte Stück bergauf.

Als ich dann endlich an der letzten Markierung ankomme, ist die Eisfront immer noch weit entfernt. Unterhalb dieses Felsens verläuft ein reißender Schmelzwasserbach.

Ich habe gesehen was ich sehen musste.

Wie mächtig der Engabreen trotzdem immer noch ist, sieht man im Größenvergleich – man achte auf den kleinen Wanderer links und die drei Eiskletterer im rechten Bild links unten.

 

Der Gletscher, ein lebendiges Wesen

2024 war Bodø europäische Kulturhauptstadt. Ein Veranstaltungsreihe dabei hatte den Svartisen im Fokus. Das Projekt „I am a living Creature“ in Zusammenarbeit mit dem Nordlandmuseum gab dem Gletscher eine eigene Stimme – immer noch nachzuhören hier (Englisch).

Plakat mit Gletscher

Plakat zum Kulturprojekt am Svartisen 2024

Dabei reflektiert der Gletscher seine eigene Entstehung und die Phase seiner größten Ausdehnung:

Nicht jeder erinnert sich daran, aber ich hatte tatsächlich einmal einen Arm, der sich durch das Fonndalen (das Nachbartal des Engabreen, Anm. d. Ü.) zog. Es mag schwer vorstellbar sein, aber wenn Sie den Namen analysieren, werden Sie wissen, dass es wahr ist. „Fonn“ bedeutet eigentlich „Schneehaufen“. Es wird oft im Zusammenhang mit kleinen Gletschern verwendet. Leider ist er heute so gut wie verschwunden.“

Der Autor, Helge Seim, hat sich für einen versöhnlichen Schluss entschieden:

Engabreen, mein anderer Arm in den Holandsfjord, hat sich in den letzten Jahren ebenfalls zurückgezogen, und wer weiß, wie lange es dauern wird, bis auch dieser Arm verschwunden ist. Trotzdem müssen Sie sich keine Sorgen um mich machen. Denn auch wenn ich dadurch weniger zugänglich und nicht zuletzt auch weniger sichtbar werde, werde ich noch viele, viele Jahre bei guter Gesundheit leben.“

Was die Zahlen und die Beine sagen

Richtig ist: Es wird zunehmend anstrengender, den Gletscherrand überhaupt zu erreichen, geschweige denn, an einer geeigneten Stelle hinaufzuklettern. Damit wird dieses Erlebnis zumindest an dieser Stelle nicht mehr für so viele zugänglich sein wie in der Vergangenheit.

Zwei Bilder nebeneinander vom selben Ort

Fünf Jahre und ein paar Wochen liegen zwischen dem Bild links (Mitte Juli 2019) und rechts (Anfang September 2024)

Das ist natürlich nur ein Nebendrama gegenüber dem eigentlichen Ereignis. NVE stellt in seinem Faktenblatt zu 2024 fest, dass die Gletscherschmelze 2024 Rekordwerte erreichte, und diesmal die nordnorwegischen Gletscher besonders betroffen waren. Eine Ursache dafür war vergleichsweise wenig Schnee im Winter, sodass die Gletscher dem warmen Sommer nicht viel entgegenhalten konnten. Engabreen verlor weitere 83 Meter seiner Gletscherzunge und hatte eine so schlechte Massebilanz wie noch nie seit Beginn dieser Messungen 1970 – einen Unterschuss von 3,9 Metern Wasseräquivalent. Selbst wenn kommende Jahre mal wieder günstiger ausfallen sollten: Es gibt durchaus Anlass, sich Sorgen zu machen. 

Andrea Seliger, 14. Juni 2025

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