Lieber Leserinnen und Leser,
den heutigen Tag der Pressefreiheit möchte ich zum Anlass nehmen, thematisch etwas abzuschweifen.
Pressefreiheit bedeutet nicht nur, dass jemand eine kritische Meinung veröffentlichen kann, ohne dafür im Gefängnis zu landen. Wichtiger noch sind gründlich recherchierte Fakten und Zusammenhänge, die die Öffentlichkeit interessieren könnten oder sollten. Es liegt in der Natur der Sache, dass Informationen umso schwerer zu bekommen sind, je größer das Interesse daran ist, diese geheim zu halten. Und es gibt staatliche wie nichtstaatliche Akteure, die vor Gewalt nicht zurückschrecken, wenn es darum geht, sich Kritik vom Leib zu halten. Eine beliebte Methode ist auch, das wirtschaftliche Überleben eines Mediums oder einer Person unmöglich zu machen. So weit, so bekannt. Und so bewundernswert sind all jene, die sich davon nicht einschüchtern lassen und versuchen, auch unter schwierigen Bedingungen einen guten Job im Interesse der Öffentlichkeit zu machen. Sie verdienen unsere Solidarität!
Der Fall Julian Assange
Die Pressefreiheit wird allerdings nicht nur in Russland oder China verletzt. WikiLeaks-Gründer Julian Assange sitzt seit zwei Jahren in einem Hochsicherheitsgefängnis in London – nach sieben Jahren Asyl in der Botschaft von Ecuador. Großbritannien hat zwar im Januar den Auslieferungsantrag der USA abgelehnt, wo ihm ein Verfahren nach dem Espionage Act und 175 Jahre Haft drohen. Allerdings geschah die Ablehnung nicht aus prinzipiellen oder inhaltlichen Gründen, sondern mit Hinweis auf Assanges Gesundheit. WikiLeaks hatte Kriegsverbrechen der USA öffentlich gemacht. Für die Kriegsverbrechen wurde bisher niemand zur Verantwortung gezogen. Der Überbringer der schlechten Botschaft jedoch sitzt in Haft und hat aktuell keine realistische Aussicht darauf, jemals wieder ein normales Leben führen zu können. Das ist ein deutliches Signal an alle, die zukünftig brisante Informationen über die USA veröffentlichen wollen – egal, wo sie sind.
Wie es zu dieser Situation kam, ist eine lange und verwickelte Geschichte, die hier nicht angemessen aufgerollt werden kann. Dazu verweise ich auf den Schweizer Rechtswissenschaftler Nils Melzer, zurzeit bei den Vereinten Nationen Sonderberichterstatter für Folter, der den Fall untersucht und mehrfach dazu veröffentlicht hat (zum Beispiel im Schweizer Monat). Schweden, Ecuador und Großbritannien spielen eine unrühmliche Rolle darin. Die Fachärzte der Vereinten Nationen kamen zu dem Schluss, Assange zeige Symptome lang andauernder psychologischer Folter.
Wo bleibt der Aufschrei?
Der Einsatz des UN-Sonderberichterstatters findet zwar ein gewisses Medienecho. Er hat gerade auch ein Buch zu dem Fall veröffentlicht. Doch diejenigen Politiker und sonstigen Akteure, die sich sonst immer schnell zur mangelnden Pressefreiheit anderswo äußern, bleiben in diesem Fall ziemlich stumm. Das ist enttäuschend, entlarvend und unklug. Denn das lässt darauf schließen, dass Pressefreiheit für sie offenbar nur dann wichtig ist, wenn sie der eigenen politischen Agenda dient. Damit machen sie sich unglaubwürdig. Damit wird ihr Einsatz für andere unglaubwürdig. Der Schweizer Beobachter fasste es so zusammen: „Der Fall Assange: Die Leiche im Keller des Westens“.
Frühere Artikel zum Thema:
- Free Julian Assange!
- Schweden stellt Ermittlungen gegen Julian Assange ein
- Island: Gericht verurteilt Kreditkartenfirma wegen WikiLeaks-Blockade
Interview mit Nils Melzer zum Fall Assange sowie der Reaktion der Behörden und der Medien auf seine Ermittlungen mit dem Beobachter (Schweiz):