Tornio (Finnland). Karl der XI von Schweden wollte 1694 die Mitternachtssonne sehen. Er hatte davon gehört, dass dies in Tornio (schwedisch Torneå) vom Kirchturm aus möglich wäre. Und so spähte Karl aus dem Fenster im engen Turm gen Norden. Doch es erging der Majestät wie vielen anderen Touristen auch: Im entscheidenden Moment schob sich eine Wolke vor die Sonne und gab erst nach 15 Minuten den Blick wieder frei. Karl soll trotzdem zufrieden gewesen sein: „Wäre die Wolke nicht gekommen, so hätten wir die Sonne die ganze Nacht gesehen, denn hinter dem Horizont war sie nicht“, notierte er damals.
Tornio war nach ihrer Gründung 1621 mehr als 150 Jahre lang die nördlichste Stadt der Welt – bis Hammerfest 1789 die Stadtrechte erhielt. Sie teilt ihr Gründungsjahr mit Göteborg, Borås, Luleå und Piteå. Mit den beiden letzteren gibt es viele Gemeinsamkeiten: Alle drei liegen schließlich im nördlichen Ostseebogen, verdienten Geld durch den Handel mit den Samen aus dem Hinterland und kämpften mit der Landhebung, die ihre Häfen ruinierte – und zum 400 jährigen Bestehen erarbeiteten die drei auch eine gemeinsame Ausstellung. Luleå ist heute die größte der drei, Piteå die Königin der Touristen dank Pite Havsbad. Aber Tornio ist ohne Zweifel die mit der abenteuerlichsten Geschichte – und wechselte auch noch zwei Mal das Land, ohne sich von ihrer Insel im Tornefluss wegzubewegen.
Tornio und die Erdkrümmung
Auf den ersten Mitternachtssonne-Touristen Karl XI folgte 1736 der Franzose Pierre Maupertuis. Er machte die alte Kirche von Tornio zum Teil seiner Vermessungen zur Erdkrümmung und berichtete auch über die Mitternachtssonne. Einfacher und häufiger als aus dem engen Kirchturm ist sie übrigens vom Berg Aavasaksa aus zu sehen, etwa 70 Kilometer weiter nördlich. Tornio und Aavasaksa liegen beide noch südlich des Polarkreises, doch die Lichtbrechung macht es möglich, dass man das faszinierende Phänomen auch weiter südlich sieht – wenn keine Wolken dazwischenkommen.
Ein Jahrhundert nach Maupertuis kam dann Friedrich Georg Wilhelm von Struve nach Tornio, um dort ebenfalls Vermessungen zur Erdkrümmung vorzunehmen, diesmal mithilfe der Kirche von Alatornio. Seine Messreihe reicht bis zur norwegischen Nordküste. Da war Tornio bereits nicht mehr schwedisch, sondern Teil eines Großherzogtums Finnland im russischen Kaiserreich.
Häfen und Grenzen
Die Altstadt von Tornio liegt auf der Insel Suensaari im Fluss, der finnisch Tornionjoki und schwedisch Torneälv heißt. Schon lange vor der Stadtgründung war dies ein wichtiger Handelsplatz. Bei der Stadtgründung war darüber diskutiert worden, ob „Torneå” nicht besser auf der Insel Seskarö an der Ostsee angesiedelt werden sollte, weil dort die Hafenverhältnisse besser waren. Doch man blieb beim traditionellen Handelsplatz auf der Insel Suensaari im Tornefluss. Vor derselben Entscheidung standen „Luleå” und „Piteå”. Auch dort bevorzugten die Kaufleute die traditionellen Orte. Sowohl Luleå als auch Piteå mussten später umziehen. Tornio blieb. Allerdings ist das Zentrum nur noch mit flachen Booten zu erreichen. Der Handelshafen, über den heute Tornios Edelstahlwerk Outokumpu seine Produkte verschifft, liegt weiter außerhalb auf Röyttä.
Von der schwedischen Seite aus kann man inzwischen zu Fuß ins Zentrum von Tornio auf Suensaari gehen. Ein Teil ist durch die Landhebung verlandet, der Rest aufgeschüttet. Das alte Tornio liegt damit näher am schwedischen Haparanda als an seinem finnischen Teil am Ostufer des Tornionjoki. Diese Grenzziehung entstammt dem Friedensvertrag von Fredrikshamn 1809, in dem das unterlegene Schweden die finnischen Gebiete an das russische Zarenreich abtreten musste. Überall sonst verläuft die Grenze in der Mitte der Grenzflüsse. Damit wäre die reiche Handelsstadt Torneå bei Schweden geblieben – doch damit konnten sich die Schweden bei den Vertragsverhandlungen nicht durchsetzen. Tornio wurde zur Grenzstadt – zunächst zu einem russischen Großherzogtum, seit dem 6.12.1917 zum selbstständigen Finnland.
Neue alte Grenzen und ein freier Fisch
In den vergangenen Jahrzehnten war diese Grenze praktisch nicht mehr präsent. Tornio und ihre schwedische Nachbarin Haparanda wurden zum Musterbeispiel innereuropäischer Zusammenarbeit. Die Coronamaßnahmen ließen Zäune und Grenzkontrollen wieder auferstehen. Zurzeit ist es allerdings wieder möglich, dort einzureisen.
Zum Stadtgeburtstag hat sich Tornio ein Geschenk gemacht: Das Flussufer schmückt nun „Kojamo“, ein Lachs aus Edelstahlelementen, die natürlich aus dem Werk von Outokumpu stammen. Die Skulptur stammt vom ortsansässigen Künstlerpaar Pekka und Teija Isorättyä. Ein Fisch kennt keine Grenzen …