Zum heutigen Tag der Pressefreiheit.
Es ist nicht einmal ein halbes Jahr her, da verlieh das norwegischen Nobelkomitee dem russischen Journalisten Dmitrij Muratow und seiner philippinischen Kollegin Maria Ressa den Friedensnobelpreis – in der Hoffnung, es würde sie schützen. Das Komitee betonte die Bedeutung einer freien, faktenbasierten Presse für den Frieden.
Auf der Internetseite von Nowaja Gaseta, deren Chefredakteur Muratow war, sind die Artikel vom 28. März. Mit Ausnahme eines erst zwei Wochen alten Artikels, in dem über das berichtet wird, was die Reporter über den jüngsten Anschlag auf Muratow herausgefunden haben. Muratow war am 6. April im Nachtzug, noch im Bahnhof, mit ätzender Farbe übergossen worden. Trotz guter Ausgangslage machte sich die Polizei nicht die Mühe, nach den Tätern zu suchen.
Nowaja Gaseta hatte seit Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine mit immer neuen Einschränkungen und Zensurvorschriften zu kämpfen. Am 28. März war Schluss. Auch der Fernsehsender Doschd und der Radiosender Echo Moskwy mussten den Betrieb einstellen.
Am heutigen Tag der Pressefreiheit werden vermutlich zahlreiche westliche Politiker nach Osten zeigen und dies anprangern. Für sie ist das allerdings auch einfach. Sechs Journalisten von Nowaja Gaseta sind umgebracht worden, weil sie in ihren Recherchen Mächtigen zu unbequem wurden. Von Deutschland aus die fehlende Pressefreiheit in Russland zu kritisieren ist dagegen so gefahr- wie wirkungslos.
Der gefährliche Präzedenzfall Assange
Doch die Pressefreiheit wird nicht nur in Russland verletzt. In London fehlt nur noch die Unterschrift von Innenministerin Priti Patel für eine Auslieferung von Julian Assange in die USA, wo er nach dem Espionage Act angeklagt werden soll – dafür, dass er (unter anderem) amerikanische Kriegsverbrechen öffentlich gemacht hat. Journalistenorganisationen sehen darin einen gefährlichen Präzedenzfall: Die Veröffentlichung unliebsamer Wahrheiten ist schließlich genau ihre Aufgabe in einer Demokratie. Wenn zukünftig für das Überbringen schlechter Nachrichten jederzeit lebenslänglich Haft drohen kann – wer möchte dann noch der Bote sein?
Die Werte einer Demokratie werden nicht dadurch verteidigt, dass man über sie redet, sondern dadurch, dass man sie lebt. Wo sind die Politiker, die sich nicht nur im Wahlkampf, sondern auch im Amt für Julian Assange einsetzen? Warum ist es einfacher, nach Moskau zu zeigen als nach London oder Washington – auf Länder, die für sich selbst in Anspruch nehmen, die Freiheit zu verteidigen? Eine Pressefreiheit, die davon abhängt, ob sie der Regierung genehm ist, ist keine.
Betrogen um das Wissen, das wir haben könnten
„His right to publish is our right to know“ ist ein alter Slogan im Kampf um die Freilassung von Assange. Er bringt es auf den Punkt. Die Missachtung der Pressefreiheit trifft nicht nur den, der als Überbringer der unliebsamen Wahrheiten bestraft wird. Sie betrügt auch alle um die Wahrheit, die sie wissen wollen, aber nicht kennen – weil Veröffentlichungen gestoppt werden oder Recherchen gar nicht mehr stattfinden. Die Wahrheit, die vielleicht einen Krieg verhindern könnte: “If war can be started by lies, peace can be started by truth” ist ein altes Wikileaks-Motto.
„Eine Welt ohne Todesbotschaften von der Front“
Dmitrij Muratow sagte in seiner Preisrede in Oslo im Dezember: „Die Welt liebt die Demokratie nicht mehr. Die Welt ist enttäuscht von der Machtelite. Die Welt neigt sich der Diktatur zu. Wir haben die Illusion bekommen, dass Fortschritt durch Technologie und Gewalt erreicht werden kann, nicht durch Menschenrechte und Freiheiten. Gibt es Fortschritt ohne Freiheit? So unmöglich wie Milch melken ohne Kuh.“
Und er wandte sich gegen die schon damals aufziehende Stimmung, in der Krieg immer mehr akzeptabel zu werden schien: „Sollte es nicht ein Ziel für Politik und Journalistik sein, eine Welt zu schaffen, in der man keine Todesbotschaften von der Front bekommt?“
Es ist nicht gelungen, den Krieg in der Ukraine zu verhindern. Doch das heißt nicht, dass man es nicht immer wieder versuchen muss. Für die Wahrheit. Für den Fortschritt. Gegen Diktatur und Krieg. Überall.
Ergänzung: Allein in den ersten vier Monaten 2022 sind 24 Journalisten und zwei weitere Medienmitarbeiter in ihrem Beruf ums Leben gekommen. 362 Journalisten, 19 Medienmitarbeiter und 92 Blogger/Bürgerjournalisten sitzen laut der Statistik von Reporter ohne Grenzen in Haft. Dort gibt es auch die ausführliche Erläuterung zur neuen Karte/Liste der Pressefreiheit.
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