Stellen Sie sich vor, Sie sind auf einer Party, vielleicht von Leuten, die Sie nur halb gut kennen. Plötzlich spricht Sie jemand an, er hat gehört, Sie mögen den Norden und fahren da öfter hin. Zuerst freuen Sie sich, es ist doch immer schön, wenn man Gleichgesinnte trifft. Aber statt von Nordlichtfotografie und einsamen Pfaden irgendwo fängt Ihr Gegenüber plötzlich an, von der arischen Rasse zu schwärmen. Und jetzt?
So ungefähr fühlt sich manches Kapitel in „Die Erfindung des Nordens. Kulturgeschichte einer Himmelsrichtung“ von Bernd Brunner an. Es ist spannend und durchaus vergnüglich zu lesen, wie sich Schriftsteller, Wissenschaftler und andere Berufsgruppen immer weiter vorwagten und welchen Weg ihre Berichte nahmen. Welchen irrigen Vorstellungen man anhing, welche Theorien man hatte für das Unbekannte: ein Magnetberg, Atlantis, ein eisfreier Nordpol. Wie in diese langsam die Realität einsickerte. Der Karl May des Nordens ist der österreichische Dichter Theodor Däubler: Er verfasste Poesie zum Thema Nordlicht, bevor er es je selbst zu Gesicht bekommen hatte.
Die Theorien galten natürlich auch den Menschen, die im Norden wohnten. Und was dem einen Betrachter ursprünglich war, war dem anderen primitiv. Eine gewisse Idealisierung gab es schon früh. Man entdeckt einen gewissen Neid auf die Isländer, die zwar arm waren, aber ein reichhaltiges kulturelles Erbe zu bieten hatten – waren wir nicht irgendwie alle ein bisschen Wikinger? Es gab solche, die im Norden die Wiege der Menschheit sehen wollten. Und dann die Rassentheorie und die Vereinnahmung des Nordens durch die nationalsozialistische Ideologie. Viele Auffassungen verrieten mehr über die Bedürfnisse der Urheber als über die Nordlandbewohner selbst.
Der Norden vor Google Earth
„Die Erfindung des Nordens. Kulturgeschichte einer Himmelsrichtung“ erinnert an eine Zeit, in der die Welt noch nicht von Google Earth und Instagram abgegrast war. Man wird aber auch konfrontiert mit seinen eigenen Projektionen sowie mit zweifelhaften historischen Figuren, mit denen man nichts gemein haben will. Davon sollte man sich die Freude am Reisen natürlich nicht vermiesen lassen.
Und heute?
Gibt es nun heute so etwas wie eine nordische Gemeinsamkeit, wo auch immer man die Grenze ziehen will? Der Autor reißt dies nur kurz an und schlägt einen Bogen von Carl Larsson zum Ikea-Katalog und zu hygge, zu Wikingerfilmen und der Ästhetik von Metalbands sowie zu sozialkritischen Krimis, denen er Kaurismäki entgegensetzt. Hier hätte man gerne noch ein bisschen mehr gelesen! Vielleicht ist das ja Gegenstand einer Fortsetzung: Wie stellen sich die Länder heute selbst dar? Man denke an den genialen PR-Coup des zeitlosen Sommarøy, der quasi jeden Winkel der Welt erreichte, weil die Leute es gerne glauben wollten. Der Norden in Zeiten von Instagram – wie wär’s, Herr Brunner?
„Die Erfindung des Nordens“ von Bernd Brunner ist im Kiepenheuer&Witsch-Verlag (Galiani Berlin) erschienen. Erhältlich ist es gebunden und als E-Book.
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