Rezension: „Meine Welt schmilzt“ von Line Nagell Ylvisåker

Als der Klimaforscher Ketil Isaksen 1995 zum ersten Mal nach Spitzbergen kam, fiel ihm auf, dass die Häuser keine Dachrinnen hatten. Es regne so gut wie nie. Spitzbergen sei eine arktische Wüste, war die Erklärung. Das hat sich geändert. Line Nagell Ylvisåker schreibt in „Meine Welt schmilzt“ viel vom Regen, der über Spitzbergen hereingebrochen ist. Es sind konkrete Details wie die Dachrinnen, an denen Ylvisåker die Veränderungen auf Spitzbergen anschaulich werden lässt. Es geht natürlich um den Klimawandel. Leider gibt es auf Spitzbergen viele solche konkrete Details, an denen man ihn sehen kann.

„Meine Welt schmilzt“ von Line Nagell Ylvisåker

Die norwegische Journalistin Line Nagell Ylvisåker, Jahrgang 1982, lebt selbst mit ihrem Mann und ihren beiden Kindern in Longyearbyen auf Spitzbergen. Sie beschreibt die bezaubernde Welt der frostigen Tage mit ihren rosa, lila und blauen Farben, Touren mit dem Schneemobil und Hüttenleben – Spitzbergen von seiner schönsten Seite. Doch es gibt vermehrt auch die andere, die nasse. Und manchmal gibt es viel Schnee. So viel, dass Häuser nicht mehr sicher sind und 2015 zwei Menschen durch eine Lawine in ihrem Zuhause starben.

Ylvisåker schreibt, sie habe lange gerne denen geglaubt, die sagten, das Wetter auf Spitzbergen schwanke eben. Doch passierten zu viele Dinge um sie herum. Das deutlich sichtbarste Beispiel ist der Abriss vom 142 Spitzhäusern aus der Siedlung Lia aufgrund der zunehmenden Lawinengefahr und der Bau von Schutzzäunen am Hang. Und es wird nicht besser, als die Journalistin beginnt, tiefer nachzuforschen. Was passiert im Meer um die Inselgruppe herum? Wie verändert sich der Permafrost?

Die Augenzeugin am Hotspot

Ylvisåker begleitet Wissenschaftler bei ihren Messungen, lauscht aber auch den Erzählungen derer, die schon lange auf Spitzbergen leben.  Sie schildert grundlegende Zusammenhänge, soweit es notwendig ist, um die Prozesse zu verstehen. Doch im Zentrum bleibt stets die persönliche Geschichte einer Augenzeugin, die sich an den Gedanken gewöhnen muss, dass sie an einem Ort lebt, wo Dinge bereits massiv in Bewegung geraten sind – und dass der Mensch daran schuld ist. Die Geschichte einer Mutter, die inzwischen Angst hat, ihre Kinder in die wunderschönen Eishöhlen mitzunehmen, weil auch diese bereits von Lawinen getroffen wurden – und gleichzeitig fürchtet, dass die Kinder möglicherweise die letzte Generation sind, die überhaupt diese Eishöhlen erleben kann.  Ylvisåker entgeht nicht die Ironie der Situation: Ein Ort, der für den Kohlebergbau gegründet wurde, wird von den Folgen des CO2-Ausstoßes bedroht.

Das Buch endet vor der Coronakrise und ist in Norwegen bereits im vergangenen Jahr erschienen. In deutscher Übersetzung ist es seit Februar 2021 zu haben.  Seit der Fertigstellung hat sich das Leben auf Spitzbergen noch einmal deutlich verändert. Doch wir wissen ja bereits, dass der CO2-Ausstoss durch die Pandemie-Maßnahmen nur vorübergehend abgenommen hat. Und die globale CO2-Überwachung am Mauna Loa hat schon wieder eine neuen Rekord gemessen.

Das Buch ist bei Hoffmann und Campe erschienen. Anne von Canal übersetzte es aus dem Norwegischen.

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