Norwegen zehn Jahre nach Utøya

Norwegen. Zehn Jahre nach dem Terroranschlag in Oslo und Utøya ist etwas neu: Immer mehr Überlebende melden sich zu Wort. Sie thematisieren den Maulkorb, den man ihnen anlegte, wenn sie rechtes Gedankengut in norwegischen Parteien anprangerten. Die Journalistin Åsne Seierstad sieht darin ein gutes Zeichen: Die Wunde des 22. Juli sei geeitert. Sie müsse gelüftet und gereinigt werden.

Utøya

Utøya 2011. Foto Paal Sørensen/Wikimedia /CC BY-SA 3.0

Das Bekannte: Vor zehn Jahren tötete der rechtsextreme norwegische Terrorist Anders Behring Breivik 77 Menschen – acht mit einer Bombe im Regierungsviertel in Oslo, 69 durch Schüsse auf der Insel Utøya. Die meisten Opfer waren Mitglieder der AUF, der Nachwuchsorganisation der norwegischen Arbeiderpartiet. Die jungen Leute waren keine zufälligen Opfer. Breivik sah in ihnen diejenigen, die dafür sorgen würden, dass Norwegen weiter durch Einwanderer islamisiert werde. Breivik wurde deshalb zu 21 Jahren Haft mit anschließender Sicherheitsverwahrung verurteilt. Er änderte 2017 seinen Namen in Fjotolf Hansen.

Zurückgewiesene Opfer

Buchtitel En av oss

Åsne Seierstads Buch

Die norwegische Journalistin Åsne Seierstad hat den Fall so intensiv verfolgt wie nur wenige sonst: In „Einer von uns“ beschreibt sie Breiviks Werdegang und die Gerichtsverhandlung, porträtiert aber auch einige der Opfer. In ihrem Rückblick für Dagens Nyheter will sie den 22. Juli zuerst als eine Narbe beschreiben. Norwegen sei immer noch dasselbe Land, aber mit einer Narbe. Nach einer tiefen Wunde. Und dann korrigiert sie sich. Das Bild sei schief. Die Wunde sei voller Eiter: „Die beste Reinigung wäre eine Anerkennung und eine Entschuldigung. Eine Anerkennung der Tatsache, dass die Opfer zehn Jahre lang zurückgewiesen wurden, wenn sie versucht hatten, Breiviks Ideen mit existierenden Haltungen in der norwegischen politischen Landschaft zu verknüpfen. Und eine Entschuldigung, weil wir es erst jetzt deutlich sehen.“

Breivik und die Frp

Die Verknüpfung, die in Norwegen möglichst nicht gemacht werden sollte, ist vor allem die zwischen Breivik und der rechten Fremskrittspartiet (Frp), deren Mitglied er war. Es war die damalige Vorsitzende Siv Jensen, die 2009 den Begriff der „Snik-Islamisering“, der schleichenden Islamisierung, prägte. Die Wähler zogen die Verbindung zunächst sehr wohl: Die Frp verlor in der Kommunalwahl 2011 und in der Storting-Wahl 2013 Stimmen. Trotzdem machte Erna Solberg sie zum Koalitionspartner. Zwei Jahre nach dem Attentat auf Utøya kam die Frp erstmals in Regierungsämter.

Die Utøyakarte

Im Buch „Utøyakortet“ beschreibt Autor Snorre Valen, wie die Überlebenden mundtot gemacht wurden und davor gewarnt wurden, die Opferkarte zu ziehen. Sie dürften die öffentlichen Diskussion um Einwanderung und Integration nicht zerstören, sie hätten eine Verantwortung, schrieb damals beispielsweise Dagens Næringsliv. „Die Utøyakarte ist kein Ass im Ärmel. Es ist die subtile Erinnerung, dass einige von uns mit den Worten vorsichtig sein müssen“, schreibt die Überlebende Elin L´Estrange. Eins hat die öffentliche Diskussion im Vorfeld des 22.Juli-Jahrestages erreicht: Dagens Næringsliv entschuldigte sich für den zehn Jahre zuvor gefallenen  Satz.

Nachahmer Philip Manshaus

Doch das rassistische Gedankengut gibt es weiterhin. Es gab und gibt Drohungen gegen Utøya-Überlebende und andere. Breivik-Nachahmer Philip Manshaus stürmte 2019 bewaffnet eine Moschee in Oslo, wurde aber dort von Männern überwältigt und konnte keinen größeren Schaden anrichten. Zuvor hatte er allerdings seine chinesischstämmige Adoptivschwester erschossen. Organisationen wie SIAN und Humans Rights Service meinen, auf die drohende Islamisierung Norwegens aufmerksam machen zu müssen. Und die neue Frp-Vorsitzende ist Sylvi Listhaug, die zum rechten Flügel der Partei gehört und beim politischen Gegner schnell „Gutheitstyrannei“ wittert. Der Kampf gegen nichtwestliche Einwanderung ist ebenfalls ihr Hauptthema.

„Man kann vor einem Verrückten fliehen, aber sich nicht vor einer Gesellschaft verstecken“, ist der Titel eines weiteren Buches, das gerade erschienen ist (Ali Esbati, Utøya-Überlebender, schwedische Version, norwegisch „Nach den Rosenzügen. 22. Juli und der gefährliche Hass“). Das gilt natürlich nicht nur für Norwegen.

(ergänzt 23.7.)

Früherer Artikel zum Thema: Das Massaker von Utøya im Film

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