Norwegen. Wo verläuft die Eiskante in der Barentssee? Wissenschaftler haben darauf eine Antwort, die dieses Jahr noch für Sprengstoff in der Politik sorgen könnte. Denn die Antwort der Wissenschaftler kollidiert mit der aktuellen norwegischen Ölpolitik.
Die Wissenschaftler des norwegischen Meeresforschungsinstitutes sprechen lieber von einer „Eiskantenzone“ („Iskantsonen“) als von einer Eiskante. Denn es handelt sich ja nicht um eine glatte Linie, sondern um die Übergangszone zwischen dem dichten arktischen Packeis und dem offenen Meer. Als deren südliche Grenze, als „Eiskante“ gilt, wo die Eiskonzentration nur noch 15 Prozent beträgt. Diese kann sich praktisch täglich ändern. In einer Pressemitteilung des Instituts zeigt Meeresforscherin Randi Ingvaldsen die Veränderungen im April 2019, dem Monat mit der größten Eisausdehnung. Die Unterschiede sind extrem. Die südliche Grenze reicht bis Bjørnøya und bis zu einem Gebiet, für das bereits Suchlizenzen für Öl vergeben wurde.
Ölförderung nur südlich der Eiskante?
In der norwegischen Politik gab es bisher den Konsens, dass nur südlich der Eiskante nach Öl gesucht werden soll. Wo die zukünftig verlaufen soll, sollten Wissenschaftler klären. 2015 änderte die Verwaltung aber bereits ihre Referenzperiode. Berücksichtigt wurde nun die Eisausdehnung der Jahre 1985 -2014, in denen sich das Klima und auch die Barentssee insgesamt erwärmt hat. Damit rückte die Grenze nördlicher als die frühere mit einer älteren Referenzperiode. Üblich ist bisher die „30-Prozent-Frequenz“, das heißt: An dieser Grenze besteht 30 Prozent Wahrscheinlichkeit, dass im April Eis liegt. So kam es zu der Ausschreibung von Suchlizenzen bis zur Höhe von Bjørnøya, nur weiter östlich – wo im April 2019 dann zeitweise Eis lag.
Forschungsinstitute vs. Ölbehörde
Der Rat des Expertenforums wurde im vergangenen Jahr fertiggestellt und beinhaltete zunächst zwei verschiedene Berechnungsmethoden: Die 30-Prozent-Frequenz wie zuletzt schon praktiziert oder eine „maximale Eiskante“ auf einer Höhe, in der nur mit 0,5 Prozent Wahrscheinlichkeit im April Eis anzutreffen ist. Wie Aftenposten später aufklärte, waren das Meeresforschungsinstitut, das norwegische Polarinstitut und die Umweltbehörde für die maximale Eiskante. Die Grenze müsste dann weiter südlich gezogen werden als die aktuelle. Lediglich die Ölbehörde war für die Variante mit der nördlichen Eiskante. Der Unterschied beträgt 150 000 Quadratkilometer.
Die Eiskantenzone ist für die Lebewesen in der Barentssee sehr wichtig. Der Rhythmus von Vereisung und Schmelze im Frühjahr fördert unter anderem das Planktonwachstum, es handelt sich um eine biologisch sehr aktive Zone. Ölsuche und Förderung würden dies stören, ein Unfall hätte massive Folgen. Ingvaldsen und ihre Kollegen plädieren deshalb dafür, dass die Grenze auch auf dem Papier so gezogen wird, dass sich die wichtige Eiskantenzone tatsächlich nördlich davon befindet.
Barentssee wird seit 2016 kälter
Untermauert wird diese Position der „Maximalen Eiskante“ dadurch, dass die Barentssee seit 2016 kälter geworden ist und damit die Eiskantenzone wieder nach Süden wandert. Dabei handele es sich um natürliche Variationen, die beobachtet werden, seit das Institut vor 70 Jahren anfing, die Temperatur der Barentssee zu messen, erklärt Ingvaldsen. Entscheidend sei, wie viel Wärme der Atlantikstrom mit sich bringe. Dieser Ausläufer des Golfstroms heizt zuvor die norwegische Küste und sorgt dort für eisfreie Häfen, bevor er Richtung Spitzbergen zieht. Und seine Temperatur variiert.
Die politische Entscheidung, was als „Eiskante“ und damit als nördlichste Grenze für die Ölindustrie gelten soll, ist für dieses Jahr vorgesehen. Langfristig rechnen allerdings alle mit einer sich nach Norden verschiebenden maximalen Eiskante aufgrund der Klimaerwärmung.
Gegen die Ölsuche in der Barentssee haben Umweltorganisationen geklagt und auch Berufung gegen das jüngste Urteil eingelegt: Norwegen-Öl: Umweltorganisationen verlieren im Klimaprozess