Svartisen. Annäherung an einen Gletscher.

An dieser Stelle fährt keiner vorbei. Plötzlich sieht man sie, die Gletscherzunge des Engabreen, über den türkisfarbenen Holandsfjord hinweg. Nirgendwo sonst in Festland-Europa reicht Gletschereis so weit zum Meeresniveau hinab. Der Aussichtspunkt am norwegischen Fylkesvei 17, nicht zuletzt wegen dieses Blicks eine „nationale Touristenstraße“, ist stets gut besucht. Wem das nicht reicht, der fährt mit der kleinen roten Personenfähre „Isprins“ über den Fjord.

Engabreen, vom Aussichtspunkt Braset am Fylkesvei 17 aus gesehen.

Ich gehöre zu denen, denen der Blick aus der Ferne nicht reichte. Ich kenne die zugefrorene Ostsee und vereiste Flüsse. Aber es ist Sommer, und vor mir liegt wieder Eis – eine ganz andere Art von Eis. Eis, das auch im Sommer nicht komplett schmilzt. Und ich kenne die Karte und weiß: Das, was ich da sehe, ist nur ein ganz kleiner Teil. Der Auslassgletscher Engabreen gehört zum Svartisen, Festland-Norwegens zweitgrößtem Gletscher, direkt am Polarkreis. Die Gletscherzunge, die man sieht, dieses in der Sommerwärme so fremdartige Eisgebilde, ist nur wie die Tatze eines großen Tieres. Ob man das auch mal zu sehen bekommt?

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Vorsicht, Iskalving

Das erste, was ich vor Ort lerne, ist allerdings, dass man sich nicht direkt vor die Gletscherzunge stellen soll, wenn man noch einen Überlebenstrieb hat. Ich lerne ein neues Verkehrsschild kennen: „Is Kalving“.

Eine Gletscherfront ist höher, als man denkt. Und weniger stabil.

Der Rand des Gletschers ist kein sanfter Übergang à la Rodelhügel, sondern eine steile, meterhohe Front. Gletscher bewegen sich durch den Druck ihres Gewichts und der Schwerkraft. Wer von einem herabfallenden Eisklotz getroffen wird, hat schlechte Karten. Ich höre von einem anderen norwegischen Gletscher, Nigardsbreen, bei dem Eltern die Absperrung missachteten und vor den Augen ihrer Kinder erschlagen wurden. Auch im vergangenen Jahr gab es dort einen tödlichen Unfall. Nein, ich möchte weder als nächste dämliche Touristin in der Lokalpresse landen noch auf der Liste des Darwin Award und ganz bestimmt nicht unter einem Eisklumpen. Bei meinem ersten Besuch der Gletscherzunge, nach vier Kilometern Fußmarsch vom Anleger aus, wobei das letzte Stück ziemlich steil ist, halte ich also respektvoll Abstand.

Weiß man, worauf man achten muss, kann man allerdings durchaus auf das Eis gehen. Ich buche eine Tour bei einem örtliche Unternehmen zur „Brevandring“, Gletscherwanderung. Dabei, so hoffe ich, werde ich auch ein Gefühl für diese Art von Eis bekommen.

Svartisen – Festland-Norwegens zweitgrößter Gletscher

Furchiger Engabreen, Auslassgletscher des Svartisen

Der Svartisen umfasst insgesamt rund 370 Quadratkilometer. In der „kleinen Eiszeit“ war er auch eine zusammenhängende Fläche. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts teilt das Glomtal Vestisen und Austisen. Dorthin kommt man allerdings nur zu Fuß. Der Engabreen gehört zum Westteil, Vestisen, und umfasst weit mehr als das, was man vom Fjord aus sieht. Seine Eismasse bildet sich in über 1000 Metern Höhe, wo jeden Winter die Feuchtigkeit vom Atlantik als neuer Schnee auf den Gletscher fällt. Auf dem Svartisen-Plateau ist das Eis bis zu 600 Meter dick. Die Ränder schieben sich dann hinab ins Tal. Warum reicht ausgerechnet Engabreen so tief?  Glaziologin Miriam Jackson von der zuständigen norwegischen Behörde NVE (Norges Vassdrags- og Energidirektorat)  antwortet mir per E-Mail: Hilfreich dafür ist, dass er an einer Nordseite liegt und außerdem vor Sonne durch den 1091 Meter hohen Berg Midnattssoltinden im Südwesten geschützt ist.

Engabreen: Masse bleibt, Front schmilzt

Von der Markierung ist die Gletscherfront inzwischen ein gutes Stück entfernt.

In der Massebilanz, also dem Ergebnis aus Winter-Zuwachs durch Schnee und Sommerschmelze, hat sich Engabreen in den vergangenen Jahren insgesamt nur wenig geschrumpft. Die Erklärung hierfür ist der viele Neuschnee im Winter.  In den 1990er Jahren, so berichtet Glaziologin Jackson, seien die Gletscher des Vestisen sogar gewachsen, während die des weiter im Inland liegenden und trockeneren Austisen bereits schrumpften. Die Frontlinie zieht sich allerdings schon seit Jahren zurück, und die Gletscherzunge wird schmaler. „Um 1998 -2000 reichte die Gletscherfront noch bis 9 Meter über dem Meeresspiegel hinab“, erinnert sich Jackson,  also fast bis zum Schmelzwassersee Engabrevatnet, der vom Fjord durch eine Moräne getrennt ist. Seitdem ist sie massiv auf dem Rückzug, nach dem warmen Sommer 2018 waren es 140 Metern. Insgesamt schrumpfen die norwegischen Gletscher sowohl in der Masse als auch in ihrer Ausdehnung, heißt es auch in der jüngsten Gletscherübersicht der Behörde.

Svartisen Subglasiale Laboratorium

Der weiße Rücken des Svartisen

Während ich auf meine Gletscherwanderung warte, überlege ich, wie ich mehr vom Svartisen-Plateau zu sehen bekommen könnte. Hinter den Gipfeln, die über dem Fjord türmen, kann ich den Gletscher als weißen Streifen sehen, wie den Rücken eines schlafenden Eisbären hinter ein paar Steinen.

vartisen von Høystaflata

Svartisen von Høystaflata aus gesehen. Mein Berg ist zu klein.

Das Chartern eines Hubschraubers fällt aus finanziellen Gründen aus – ich muss schon meine eigenen Beine nehmen. Mir kommt die Idee, einen kleineren Berg in der Nähe zu besteigen, von dem aus man eine gute Aussicht haben soll. Da die Tour vermutlich in keinem großen Touristenführer steht und es auch keinen richtigen Parkplatz gibt, bin ich auf meinem Weg zur Høystaflata allein mit ein paar Schafen und Fliegen. Tatsächlich verbessert sich mein Blick auf den weißen Rücken am Berg gegenüber mit jedem Höhenmeter. Dann ist mein Berg zu Ende und so viel mehr vom Svartisen habe ich doch nicht gesehen.

Brevandring – Gletscherwanderung

Wir treffen uns zur Gletscherwanderung. Unser Guide heißt Øyvind und trägt Shorts. Als wir bis zur Gletscherzunge geklettert sind, haben die meisten aus unserer fünfköpfigen, internationalen Gruppe auch einige Kleidungsstücke abgelegt. Es ist ein warmer Tag. Handschuhe werden uns trotzdem ans Herz gelegt, weil Eis scharfkantig ist.

Gletscherwanderung

Vor dem Gang aufs Eis: Zwei Gruppen auf dem sicheren Felsvorsprung.

Wir bekommen alle einen Helm, ziehen Klettergurte an, knüpfen Steigeisen unter unsere Bergstiefel, werden angeseilt und schultern die Eisaxt – es wird ernst. Øyvind weiht uns in die Grundlagen des Eiskletterns ein. Die erste Schwierigkeit ist, von unserem sicheren Felsen aus aufs Eis zu kommen. Einer nach dem anderen versuchen wir, Øyvind nachzuahmen, krallen uns mit unseren Fuß-Zacken in die Eiswand und schwingen die Axt. Dabei sichert uns Øyvind mit dem Seil, das oben auch noch über einen Haken im Eis läuft. Die krosse äußere Schicht, der Schnee des vergangenen Winters, hält gar nichts, stelle ich fest. Das harte Eis darunter lässt sich von einem schwächlichen Versuch mit der Eisaxt dagegen gar nicht beeindrucken. Wer dort seine Gerät hineintreiben will, muss schon etwas Kraft anwenden. Dem harten Eis, sagt Øyvind, traue er hundertprozentig. Zehn Jahre dauert es, bis aus dem Niederschlag eines Winters durch den Druck des Neuschnees dieses komprimierte Eis geworden ist.

In den Klauen von Engabreen

Unsere Gletscherzunge ist etwas schmutzig – angewehtes Laub, Staub und Rußteilchen haben sich auf das Eis gelegt. Doch nicht daher kommt der Name Svartisen, habe ich gelernt, sondern weil „Svartis“, „Schwarzeis“, der alte Name für das harte dunkle Eis ist, das den Kontrast zum weißen Schnee bildet.

Im gefurchten Eis der Gletscherzunge geht es manchmal auch tief hinab.

Es ist allerdings nicht schwarz, sondern hat verschiedene Farben je nach Alter, Struktur und Sonnenlichteinfall. Wir sehen es in den Spalten tiefblau leuchten. An einer Stelle verschwindet Schmelzwasser in einem blauen Loch, dessen Boden nicht zu sehen ist. Später werde ich einen Blick in eine flache Höhle unter dem Gletscher werfen können, die von Schmelzwasser gebildet wurde und blau schimmert. Aber zuerst klettern wir über die tief gefurchte Gletscherzunge, hinauf und hinunter. Viel Zeit für romantische Betrachtungen bleibt da nicht. „Das Eis verändert von Tag zu Tag“, erklärt uns Øyvind, deshalb müsse man immer neue Wege suchen. Mit der Eisaxt und nassen Handschuhen rücke ich dem Eispanzer auf den Pelz und kratze doch nur an der Oberfläche. Tief in einer Spalte sehe ich nur noch Eis um mich und oben den blauen Himmel und verliere jedes Zeitgefühl.

Zurück auf dem sicheren Fels an der Seite des Gletschers frage ich Øyvind über ein Ziel aus, das ich auf Schildern und auf der Karte gesehen habe: „Tåkeheimen. Dabei handelt es sich um eine Hütte des norwegischen Wandervereins (DNT, Den Norske Turistforeningen). Der Name bedeutet Nebelheim, und dort, wo ich die Hütte ungefähr vermute, habe ich auch noch nichts anderes als Wolken gesehen. „Eine der am schönsten gelegenen Hütten überhaupt“, sagt Øyvind. Und feuert damit die Idee an, die sich langsam in meinem Kopf breit macht.

Auf dem Weg in den Nebel

Wanderung Savartisen

Vom Wendepunkt am Fuß des Berges sind es noch 4,1 Kilometer bis zur Hütte Tåkeheimen, aber auch gut 1000 Höhenmeter.

Denn Tåkeheimen liegt nicht nur auf 1073 Metern Höhe. Auf der Karte liegt die Hütte direkt am Gletscher. Sie wurde allerdings schon zur „unzugänglichsten in ganz Norwegen“ gekürt, fast alle Höhenmeter verteilen sich auf eine weniger als vier Kilometer lange Strecke. Ein weiterer Beiname ist „Institutt for uhensiktsmessig vær“, Institut für unzweckmäßiges Wetter. Ich bin keine Bergziege und nur mäßig geübt. Aber die Wettervorhersage ist gut. Am nächsten Morgen packe ich meinen Rucksack, quere erneut mit dem „Isprins“ den Fjord und mache mich dann an den Aufstieg, zunächst auf vertrautem Pfad, dann nach neuen Markierungen.

„Brelabben“ – das Labor unter dem Eis

Dabei halte ich nach einer Tür Ausschau. Irgendwo hier muss der Eingang sein zum weltweit einzigen Laboratorium unter einem Gletscher. Svartisen Subglasiale Laboratorium, auch einfach „Brelabben“ genannt, ist ein Nebenprodukt einer technischen Meisterleistung, von der man als Besucher nichts sieht. Das Schmelzwasser des Engabreen wird nämlich noch unter dem Gletscher aufgenommen und durch einen Tunnel durch den Berg bis zu Norwegens größtem Stausee Storglomvatnet geleitet. Damit wird das Wasserkraftwerk in Kilvik am inneren Ende des Holandsfjords betrieben. Andere Zungen des Svartisen kalben direkt in den Stausee Storglomvatnet. Dort wollte vor kurzem auch ein findiger Norweger eine Eiswürfelproduktion aufbauen, aus Gletschereis, das dann teuer nach Dubai verkauft wird. Nach einem Probebetrieb hat die Kommune Meløy das nicht genehmigt, doch es ist möglich, dass die Idee noch einmal auf den Tisch kommt.

Svartisen Subglasiale Laboratorium

Blindgang

Engabreen kurz vor Nebel

Letzter Blick auf den Engabreen, bevor es in die Wolkenbank geht.

Die Tür zum Gletscherlabor finde ich erst auf dem Rückweg, und sonst sehe ich bald auch nicht mehr viel. Ich bin mit meiner mühsamen Kletterei dort angekommen, wo der versprochene „Tåke“ oder doch schon Wolken auf mich warten. Immerhin eine angenehme Abkühlung. Ein junges Pärchen ist etwas schneller unterwegs als ich, wir tauschen kurz ein paar Worte. Die Hälfte der Höhenmeter ist schon geschafft, erfahre ich. Sie wollen auch zum Tåkeheimen. 

Ich frage mich, ob sich der Weg überhaupt lohnt, wenn man dann doch nichts sieht, und gehe trotzdem weiter. Man kann einen Bergrücken erahnen, hört einen Bach rauschen und sieht auf dem Pfad etwa 50 Meter weit, das ist alles. Und irgendwo da im Unbestimmten liegt die Hütte.

Tåkeheimen

Womit ich nicht gerechnet habe: Der Nebel, oder die Wolkendecke, hat ein oberes Ende. Plötzlich wird es wieder heller, ich sehe die Sonne, klettere heraus, über mir blauer Himmel. Ich fühle mich belohnt, auch wenn es jetzt natürlich wieder wärmer wird.

Tåkeheimen

Der erste Blick auf Tåkeheimen.

Ein paar Berggipfel ragen heraus, nach unten sieht man nichts. Doch jede Windung bietet nun eine neue, spannende Perspektive. Ich sehe den Fuß eines Gletschers vor mir auftauchen und umgehe ein Schneefeld. Neben den roten Markierungen sind nun auch Steintürmchen aufgehäuft, die man besser sieht, solange hier oben noch Schnee liegt. Dann taucht die Hütte auf, noch in einiger Entfernung, aber ich sehe die beiden von vorhin dort herumlaufen. Jetzt komme ich sehr langsam voran, weil ich ja den Schnee fotografieren muss, aber irgendwann bin ich auch da.

Svartisen

Tåkeheimen steht auf einem Felsrücken über dem Litlbreen im schönsten Sonnenschein. Und dahinter breitet sich eine weite weiße Landschaft aus. Als ich mich ein wenig erholt und die Hütte inspiziert habe, nehme ich die Kamera und versuche, noch ein bisschen mehr Überblick zu gewinnen. Mit jedem Höhenmeter sehe ich mehr von der großen weißen Masse, die vor mir liegt. Nicht schmutzig, sondern verhältnismäßig frisch beschneit, nicht furchig, sondern ziemlich  ebenmäßig mit ein paar sanften Erhebungen. Die Spalten, die es sicher auch gibt, sieht man nur beim Zoomen. In der Ferne ein schneefreier Gipfel, vielleicht schon Snøtinden, 1594 Meter. Jetzt hätte ich gerne irgendwas als Größenvergleich, einen Skifahrer vielleicht, denn die Weite lässt sich auf einem Foto einfach nicht vermitteln, aber da ist niemand. Svartisen. Ich bin am Ziel.

Text und Bilder Andrea Seliger, Juli 2019

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