Luleälven – Leben an der fließenden Batterie

„Nach Suorva willst du? Ist das nicht dieser Damm, von dem aus das ganze Flusstal bis Luleå überschwemmt wird, wenn er bricht?“ Mein Vermieter weiß Bescheid. Der Suorvadamm staut das Wasser des Stora Luleälv, einem der beiden Hauptzuflüsse des späteren Luleälv. Er liegt nördlich des Polarkreises nahe der norwegischen Grenze. Mikael Niemi, Schriftsteller aus Pajala, ließ den Damm in seinem 2012 erschienenen Roman „Fallvatten“ tatsächlich brechen und schuf damit eine Art schwedischen Katastrophenroman.

Nüchterner ist der Evakuierungsplan der Kommune Luleå. Das Risiko für einen Dammbruch sei sehr gering, ließe sich aber nicht ganz ausschließen. Im Fall von Suorva dauere es 24 Stunden, bis das Wasser Luleå erreiche, und weitere 12 Stunden bis zum höchsten Stand. Man müsse mit fünf bis sechs Metern Hochwasser auf der Zentrumshalbinsel rechnen, weiter nördlich mit mehr. Der Plan widerspricht im Übrigen Niemis Szenario: „Es gibt keine Flutwelle.“

Luleälv

Luleälven nachts im Juni nach Regen.

Von unserem Haus in Gammelstad ist der Luleälv nicht weit entfernt. Hier am Gammelstadsfjärden ist er sehr breit. Ich muss aber ein Stück durch den Wald laufen, um an einer der sandigen Buchten die Füße ins Wasser halten zu können. In den sumpfigen und schilfigen Uferabschnitten brüten jetzt zahlreiche Wasservögel. Hinter Luleå mündet er über zwei enge Arme an der Insel Sandön vorbei in die Ostsee.

Ist das Ufer tiefgefroren und zugeschneit, ist der Fluss viel einfacher zugänglich. Über das Eis kann ich zu der kleinen Insel Tomholmen laufen. Das stabile Wintereis schafft Raum für neue Freizeitvergnügen. Flussabwärts im Zentrum von Luleå halten sie eine Bahn mit schweren Maschinen den ganzen Winter schneefrei und glatt für die Schlittschuhläufer. Die gefrorenen und beschneiten Wasserflächen werden aber auch als eine Erweiterung der Infrastruktur genutzt – auf Skiern, mit dem Schneemobil und an manchen Stellen auch mit dem Auto.

Das Jahr am Fluss in Luleå

Fünf Zentimeter Kerneis reichen für einen Menschen, meint Kjell vom Långfärdsskridskoklubb in Luleå – jenen Enthusiasten, für die es nichts Besseres gibt als das erste blanke Eis im Herbst auf dem Fluss und im Skärgården. Die erste Tour ist meist schon im November möglich. „Im Herbst muss sich das Wasser erst umschichten“, warnt Kjell. Im Sommer ist die obere Schicht warm. Im Herbst kühlt sie ab und beginnt abzusinken. Vier Grad warmes Wasser ist bekanntlich am dichtesten und damit schwersten. Mit Hilfe des Windes bekommt der Fluss eine einheitlich kalte Temperatur. Seine obere Schicht kühlt weiter ab und kann eine stabile Eisdecke bilden. Die Natureisbahn von Luleå wird meist Ende Dezember/ Anfang Januar eröffnet.

Aufbruch in den Norden

Als ich am 21. April zum Suorva-Damm aufbreche, liegt das Eis zwar noch, die Wärme hat ihm aber bereits deutlich zugesetzt. Vor drei Tagen konnte ich aber noch die letzte Skitour unternehmen.

Edefors Laxede

Brücke über den Luleälv bei Edefors nahe dem Kraftwerk Laxede

Nun steuere ich ins Inland und gen Norden, wo sich der Winter immer länger hält. Immer den Fluss entlang, der offiziell 461 Kilometer lang ist. Die Kraftwerke in Boden und Vittjärv nimmt man von der Straße 97 aus nicht wahr. Hinter der Bogenbrücke von Edefors befindet sich ein Rastplatz, von dem aus man über den Fluss sehen kann – genau genommen über die Staustufe vor dem Kraftwerk Laxede. Die Strecke nennt sich „Weg zwischen den beiden Welterben“ – von Gammelstad bei Luleå bis Laponia im Fjäll. In Gammelstad Kyrkbyn ist die Tradition der „Kyrkstugor“ und eine Kirche aus dem 15. Jahrhundert zu sehen. Laponia umfasst vier schwedische Nationalparks vom fjällnahen Urwald bis zum Hochgebirge. Es ist ein Teil des samischen Kulturlands. Der Suorvadamm liegt mittendrin.

Luleälven – der Stromproduzent

Mit seinen 15 Staudämmen produzieren der Luleälv und seine Zuflüsse jährlich etwa ein Zehntel des gesamten schwedischen Stromverbrauchs, mehr als 14 Terawattstunden im Jahr. Ein Viertel der schwedischen Wasserkraft stammt aus diesem Flusssystem. Alle Anlagen gehören Vattenfall, dem Energiekonzern im Eigentum des schwedischen Staates. Der Luleälv allein liefert mehr Strom als die Atomkraftwerke Ringhals 1 und 2 zusammen, die nun abgeschaltet wurden bzw. werden. Die Produktion lässt sich je nach Bedarf auf Knopfdruck regulieren und darauf reagieren, was andere Energiequellen gerade leisten – oder auch nicht. Emissionsfrei und ohne radioaktiven Abfall. Seit vielen Jahrzehnten und auch in Zukunft.  Aber auch das hat seinen Preis.

Überblick über alle Wasserkraftwerke (Quelle Vattenfall)

Letsi torrfåra

100 Jahre Ausbeutung – ist der Luleälv rettungslos verloren?“ fragten 19 lokale Organisation vergangenes Jahr in einem offenen Brief, nachdem in Schweden ein neues Wassergesetz in Kraft trat, was die Situation am Luleälv nicht verbesserte.

Fluss ohne Wasser

Fluss ohne Wasser: Bett des Lilla Luleälv nach dem Staudamm Letsi.

„Letsi torrfåra” , das 17 Kilometer lange trockene Flussbett des Lilla Luleälv bei Letsi, ist weiterhin trocken und sieht mit seinen kahlen Steinen aus wie der Beginn einer Straßenbaustelle, die plötzlich verlassen wurde. Lilla Luleälv und Stora Luleälv, der kleine und der große also, flossen einst bei Vuollerim zusammen und bildeten gemeinsam Schwedens zweitmächtigsten Fluss, gemessen an der Wassermenge, nach dem Götaälv. Heute kommt an der natürlichen Stelle der Vereinigung nichts mehr an. Denn das Wasser des Lilla Luleälv wird vom Letsi-Staudamm aufgehalten. Das Letsi-Kraftwerk liegt unterirdisch und nutzt auch den Höhenunterschied zwischen den beiden Flussarmen aus. Nachdem das Wasser durch die Turbinen gelaufen ist, rauscht es durch acht Kilometer Rohr zu einem vorzeitigen Treffen mit dem großen Bruder. 17 Kilometer Flussbett bleiben deshalb trocken – seit 50 Jahren.

Ein trockenes Flussbett sieht nicht nur hässlich aus, sondern hat auch Folgen für die Natur und die Menschen dort, die mit und von ihr leben. Lokale Organisationen und Umweltverbände kämpfen deshalb seit langem – und bisher vergeblich – dafür, dass Vattenfall wenigstens in einem Pilotprojekt eine Mindestmenge von zehn Kubikmetern pro Sekunde durchlässt.

Damit gäbe es zwischen den Dämmen Letsi, Porsi und Messaure immerhin 50 Kilometer zusammenhängendes Gewässer für Fische. Dagegen wehrt sich Vattenfall bisher, denn das würde bedeuten, dass diese Wassermenge nicht mehr für die Stromproduktion zur Verfügung stünde. Bisher ist Vittjärv das einzige Kraftwerk am Fluss, für das ein Mindestauslass vorgeschrieben ist. Die Organisationen weisen darauf hin, dass Vattenfall gut verdiene an der norrländischen Natur und wenig davon vor Ort bleibe – es sei höchste Zeit, etwas zurückzugeben.

Stora Luleälven

Stora Luleälven

Stora Luleälven ein Stück südlich von Messaure.

Ich biege bei Vuollerim von der 97 ab und wähle diesmal den kleinen Weg östlich des vom Porsi-Damm aufgestauten Stora Luleälv. Auf dieser Seite leben nicht viele Menschen. Einige Häuser wirken verfallen, andere sind hübsch herausgeputzt. Die Schneedecke ist hier noch dick. Durch die Bäume kann ich einen Blick auf die meist vereiste Wasserfläche werfen. Aus der Ferne sehe ich einen Elch. Es ist der erste, der lange genug stehen bleibt, bis ich ihn fotografiert habe, aber das Bild wird etwas unscharf. Als er sich weiterbewegt, merke ich, dass es eine Elchkuh mit Kalb ist, aber das Kalb war hinter den Baumstämmen vorher nicht zu sehen. Später treffe ich auch Rentiere. Das hier ist ihr Land.

Tiere unterwegs

Der Fluss wird enger. Es ist nicht viel Platz im Tal und er scheint einige Strömung zu haben. Er ist hier komplett eisfrei. Dann tauscht vor mir eine in der hügeligen Landschaft unnatürlich gerade waagrechte Linie auf. Der Messaure-Staudamm.

Der Messaure-Damm ist 101 Meter hoch und fast zwei Kilometer lang. Für seine Füllung mussten 10,5 Millionen Kubikmeter Material in die Einsamkeit gekarrt werden, für die Arbeiter gab es eine provisorische Siedlung. Keine Fischtreppe der Welt verhilft einem Lachs über 100 Meter Damm, außerdem wäre er schon an den vier vorherigen gescheitert. Wilde Lachse angelt man im Luleälv nur noch unterhalb des Kraftwerkes Boden.

Messaure Damm oben

Der Damm von Messaure ist 1,9 Kilometer lang. Darüber verläuft eine Straße.

Die Strömung hält den Einlauf eisfrei. An anderen Stellen zeigen Brüche in der Eisdecke die Auswirkung der Niveauänderungen. In natürlichen Gewässern ist das Ufer-Eis gewissermaßen an Land festgefroren. Das schützt das Ufer auch vor Erosion. In Stauseen kann sich der Wasserstand schnell ändern. Das verhindert nicht nur eine stabile Eisdecke in der Fläche, sondern auch die Verbindung mit dem Ufer. Eisschollen schaben so an der Küste und verstärken die Erosion.

Flusseis – ein wichtiger Faktor

Was bedeutet die Eis-Phase für einen naturbelassenen Fluss? „Das Eis hat eine Rolle als Störung, an die die Systeme im Norden angepasst sind. Verschwindet diese, gibt es auch Veränderungen an Flora und Fauna. Wir werden beispielsweise einige Pflanzenarten verlieren, die teilweise abhängig von dieser Störung sind“, schreibt mir Biologin Lovisa Lind Eirell von der Universität Karlstad auf meine Frage. Sie ist spezialisiert auf Fluss-Ökologie. Eis habe auch eine Bedeutung für die Primärproduktion in Gewässern, also die Erzeugung von Biomasse aus anorganischen Substanzen. Mit Veränderungen im System würde sich auch dies verändern. „Das Eis wirkt auf viele verschiedene Gruppen von Organismen auf unterschiedliche Weise. Auch die verschiedenen Stadien der Eisbildung haben eine Bedeutung.“ Ich habe es geahnt. Das Thema ist komplex.

Kraftwerksgeschichte

Die Strecke zwischen Jokkmokk und Porjus auf der E 45, die die Schweden Inlandsvägen nennen, ist in mehrerer Hinsicht bemerkenswert. Auf weniger als 50 Kilometern begegnet man den bunt bemalten Toren des Kraftwerks Akkats (Lilla Luleälv), es folgen die Dämme von Ligga, Harsprånget und Porjus (Stora Luleälv). Trotzdem ist sie landschaftlich reizvoll. Zwischen Ligga und Harsprånget gibt es eine Strecke, wo man sehen kann, wie sich die Abhänge zu beiden Seiten des Flusses sehr nahe kommen. Da hätte ich gerne einen Blick hinein geworfen! Aber es liegt noch zu viel Schnee, um in weglosem Gelände herumzustapfen.

Harsprånget

Nur einmal im Jahr, wenn die Luken zur Sicherheitsüberprüfung geöffnet werden, rauschte es im Wasserfall Harsprånget.

Kurz vor dem Kraftwerk Harsprånget gibt es einen Parkplatz und einen Holzbohlenweg mit Treppen zu einem Aussichtspunkt. Man klettert hinunter, sofern der Schnee es zulässt – und sieht auf einen Wasserfall ohne Wasser. Es gibt zwar eine Menge kleine Bäche, die die steilen Felsen hinunterrauschen, sofern es denn warm genug ist. Aber die Kraft, die einst die tiefe Furche in den Stein gegraben hat, treibt jetzt Waschmaschinen und formt Stahl. Harsprånget, samisch Njommelsaksa, war einer der mächtigsten Wasserfälle Schwedens, mit doppelt so viel Volumen wie der Storforsen am Piteälv. Eine Fotografie auf einer Aussichtsplattform zeigt, was man gesehen hätte, wäre man 80 Jahre früher gekommen. Zehn Menschen starben beim Bau. Harsprånget ist Schwedens leistungsstärkstes Wasserkraftwerk mit 977 Megawatt und mit der zweithöchsten Jahresstromproduktion, mehr als 2000 Gigawattstunden.

Für die Zeit des Baus 1945 bis 1951 wurde eigens eine Siedlung angelegt, in dem die Mitarbeiter und ihre Familien lebten. Sie blieben länger als erwartet, weil gleich danach der Bau des Kraftwerks Ligga begann. Danach wurde alles abgeräumt. Die Zufahrt dorthin befindet sich ein kleines Stück nördlich des Kraftwerks. Eine Tafel zeigt die ursprüngliche Aufteilung und der Wald hat sich noch nicht alles zurückerobert. Es ist ein stiller Ort, an dem es schwer fällt, sich den Trubel damals vorzustellen.

Wo alles anfing: Porjus

Kommt man dann nach Porjus, wundert man sich möglicherweise über eine für den kleinen Ort völlig überdimensionierte Kirche. Die keine ist, sondern das Gebäude des ersten großen schwedischen Wasserkraftwerks. Es wurde 1910-15 gebaut, um Strom für die Elektrifizierung der Erzbahn von Kiruna nach Narvik zu liefern und ermöglichte auch den Ausbau der Bergbauindustrie. Für die damaligen Verhältnisse war es extrem aufwendig, so weit abgelegen ein solches technisch avanciertes Bauwerk zu errichten.  Der Platz in der Geschichte der Wasserkraft ist Porjus deshalb sicher.  Heute gibt es eine modernere Variante, die aber unterirdisch liegt.

Altes Kraftwerk Porjus

Das erste große Wasserkraftwerk im Norden, fertiggestellt 1914, in Porjus.

Vor dem imposanten Gebäude des alten Kraftwerks, das Vattenfall auch heute noch nutzt, steht ein Schild: Mit großen Ziffern wird die Nummer des „Iskontor“ angekündigt. Zwei markierte Wege über das Eis unterhält Vattenfall, Kirjaluokta-Björnudden und Kebnats-Saltoluokta. Beide liegen in einem Gebiet, wo der aufgestaute Fluss Langas heißt, weiter im Norden. Ihre Tragfähigkeit wird regelmäßig gemessen – von allen anderen Flächen soll man Abstand halten. Im „Iskontor“ kann man auch anrufen, wenn man wissen will, ob Wasser abgelassen wurde oder wird und man somit mit Veränderungen rechnen muss. 

Auf dem Weg ins Fjäll

Hinter Porjus biege ich ab auf die Straße 827 Richtung Stora Sjöfallet und Ritsem. Diese Straße ist eine Sackgasse – sie führt nur in die Berge hinein. Links von mir sehe ich immer wieder den gestauten Fluss, der hier Stora Lulevatten heißt. Rentiere sind unterwegs und suchen auf schneefreien Flecken nach Nahrung. Neben der Straße verlaufen Stromleitungen.

Stromproduktion contra samische Lokalbevölkerung

Der Ausbau der Wasserkraft im 20. Jahrhundert, beginnend mit Porjus, war getrieben vom steigenden Strombedarf und von höchster Priorität. Naturschutz zählte dabei ebensowenig wie die Meinung und die Interessen der größtenteils samischen Lokalbevölkerung. Siedlungen wurden geräumt und überflutet, aus Rentier-Weideland und Zugpfaden im Flusstal wurden Seen, und der Fischerei kamen die Arten abhanden.

Sumpfdotterblumen im Luleälv

Die Schweizer Kulturgeografin Hannah Ambühl hat dazu als Masterarbeit einen Film vorgelegt: „Älven, min vän“, deutscher Titel „Der Fluss meine Freundin“, lässt vier samische Frauen zu Wort kommen, die am Julevädno (samisch für Luleälv) leben. Drei erinnern sich noch an die Zeit der Dammbauten: „Uns, der Lokalbevölkerung , wollte niemand zuhören. Es war, als stünden wir der Zukunft im Weg“ so Eva Stina Sandling, eine der Protagonistinnen. Die drei berichten, wie es ist, das Haus verlassen zu müssen, wenn einem klar wird, dass nie wieder ein Lachs kommen wird, wenn man den Wasserfall nicht mehr hören kann – und wie man lernt, damit zu leben. Für Sandling kam der Punkt der Versöhnung mit dem Fluss, als die Sumpfdotterblumen am neuen Ufer erschienen. Mit der jungen Christine Utsi kommt die neue Generation zu Wort, die diesen Verlust nicht empfinden kann, weil sie es nicht anders kennt. „Man will am Fluss leben. Denn dort ereignet sich das Leben“, sagt sie.

Mehr zum Film von Hannah Ambühl

Langas

Eisweg Kebnats

Beginn des Eisweges bei Kebnats. Die Beschilderung daneben ist eindeutig.

Die Berge auf der anderen Seite des Gewässers, das inzwischen Langas heißt, rücken näher heran und werden höher und steiler. Es ist auch noch ein Stück winterlicher geworden. Von Kebnats geht im Sommer ein Boot hinüber zur Station Saltoluokta der Svenska Turistförening (STF). Im Winter erreicht man die Station zu Fuß oder auf Skiern über einen ausgeprickten Eisweg. Alle kleinen Berghütten hatte STF schon Ende März wegen Corona geschlossen. Die großen Stationen, in denen man „Abstand halten“ besser umsetzen konnte, blieben vorerst offen. Doch wenige Tage vor meiner Tour kündigte STF an, dass nun auch Saltoluokta und die anderen Stationen die Saison vorzeitig beendeten. Damit erledigten sich meine Überlegungen, wie bequem und warm ich es in der Nacht haben will und welches Infektionsrisiko ich damit möglicherweise eingehe. Der Weg über das Eis hätte mich ja interessiert. Er sieht gut aus, die letzte verzeichnete Messung ist allerdings schon fünf Tage her. Gleich daneben wird vor schwachem Eis gewarnt. Aber ich würde ja ohnehin vor verschlossener Tür stehen.

So hoch im Norden geht die Sonne Ende April zwar spät unter, aber die Berge werfen auch lange Schatten. Das spezielle schräge Abendlicht begleitet mich auf dem letzten Stück.

Auf dem Besucherparkplatz des Naturum Laponia in Vietas bleibe ich erst einmal in einer halb geschmolzenen Schneepampenpfütze stecken. Die Spikesreifen finden darin keinen Halt und drehen durch. Ich muss mit der Schaufel den Weg freigraben. Dann kann ich über einen einladend geräumten Weg hinunter zum Naturum gehen. Das ist zwar geschlossen, bietet von der Terrasse aber einen schönen Ausblick.

Naturum abends

Naturum Laponia in Vietas

Ausgerichtet ist der Aussichtspunkt nicht zuletzt auf das, was vor 100 Jahren die Hauptattraktion und Namensgeber des Nationalparks Stora Sjöfallet war: eine Serie von großen Wasserfällen. Seit dem Bau des Staudamms von Suorva fließt aber nicht mehr viel Wasser durch dieses alte Flussbett des Stora Luleälv. Der größte Teil wird durch das in den Fels gesprengte Kraftwerk Vietas geleitet. Erst unterhalb der Fälle erhält der Fluss sein Wasser zurück. Andere Zuflüsse sorgen dafür, dass es trotzdem einen Wasserfall gibt. Dafür bin ich zur falschen Zeit unterwegs – die sind noch gefroren. Nach heftigen flüssigen Niederschlägen kann Stora Sjöfallet aber auch heute eindrucksvoll sein, wie die Bilder im Fotoband   „Luleälven – Möten i Norr“ zeigen. Das Original ist ohne die frühere Wassermenge natürlich nicht erreichbar.

Unterwegs ins Fjäll

 

Suorva

Suorva abends

Blick auf den Stausee von Suorva, Akkajaure, 22 Uhr.

Im letzte Abendlicht erreiche ich Suorva und übernachte sicherheitshalber auf einem Parkplatz oberhalb des Dammes. Das Reservoir scheint mir zwar nur mäßig gefüllt. Das Wasser sitzt noch festgefroren in den Bergen. Mikael Niemi platzierte seinen Dammbruch im September nach einem verregneten Sommer. Aber wenn man schon unbequem liegt (Beifahrersitz eines Lupo), möchte man nicht auch noch Alpträume haben.

Der Suorva-Damm ist als Bauwerk zwar wuchtig, aber nicht so wie Messaure. Suorva ist „nur“ 67 Meter hoch und auch nicht ganz so lang. Wanderer können zu Fuß hinüberlaufen.

Der Damm an der Stelle des ehemaligen Lilla Sjöfallet nutzt eine Klippe in der Flussmitte. Er wurde in vier Etappen gebaut – die letzte war 1972 beendet. Seine Macht, die ihm zu einer Rolle in einem Katastrophenroman verholfen hat, ist sein Reservoir, das nach dem nahen Berg den Namen Akkajaure bekommen hat. Dort kann der Wasserzufluss eines ganzen Jahres gelagert werden, 5,9 Kubikkilometern. Dem hätten die Dämme flussabwärts nichts entgegenzusetzen. Und ein Dammbruch ist keineswegs nur eine abwegige Idee. 1983 wurde tatsächlich ein Leck entdeckt. Das Problem wurde behoben und der Damm verstärkt. Mikael Niemi war übrigens nicht der erste, der den Damm brechen ließ. Lars Wilhelm Svonni, schwedisch-samischer Schriftsteller und Politiker, ließ ihn schon 2005 in „Överskrida gränser“ („Grenzen überschreiten“) einem Attentat zum Opfer fallen, das sich gegen die Ausbeutung der Natur richten sollte.

Vor dem Dammbau lief der Stora Luleälv hier durch eine Reihe von Bergseen und ergoss sich dann bei Stora Sjöfallet über steile Klippen. Weil man diese großartige Natur schützen wollte, wurde Stora Sjöfallet 1909 als einer der ersten Nationalparks Schwedens eingerichtet. Nach den Bau von Porjus stieg der Bedarf an Strom jedoch weiter an, und man hätte auch gerne den Zufluss zu Porjus besser reguliert. Das Gebiet des Staudamms wurde deshalb aus dem Nationalpark herausgenommen. Der Nutzen für die Gesellschaft erschien größer und wichtiger. Seit der Fertigstellung der letzten Etappe 1972 ist dieses Reservoir das leistungsfähigste in ganz Schweden – nirgendwo sonst lassen sich so viele Kilowattstunden auf Abruf lagern.

Das Ende des Weges

Weg nach Ritsem

Der Weg nach Ritsem

Ich bin in Suorva, aber die Straße ist noch nicht zu Ende. „Die Dämmung war Mist, aber die Straße ist gut“ gehört zu den Sätzen, die man im Zusammenhang mit der Erschließung des Stora Luleälv immer wieder liest – denn zuvor gab es keine Straße. Nun haben es auch Touristen einfacher, ins Fjäll zu gelangen. Die Straße geht noch 40 Kilometer weiter bis Ritsem, erst dann ist endgültig Schluss. Auch die Stromleitungen gehen noch weiter, was mich wundert. Und jetzt will ich es wissen. Weil es nachts ganz schön kalt geworden ist im Auto, mache ich mich schon früh auf den Weg. Als es dann wieder halbwegs aufgeheizt ist, halte ich auf einem Parkplatz und mache mir einem Kaffee. Nach dem schönen klaren Wetter gestern muss ich mich erst einmal mit tief hängenden Wolken begnügen.

Akka

Akka will sich nicht richtig blicken lassen.

Vor mir liegt Akkajaure, gnädig zugefroren und zugeschneit. Ich sehe also nichts von den Spuren, die Eiserosion und ein über 30 Meter variierender Wasserstand hinterlassen, nur ein paar mächtige Felsbrocken. Der Wasserspiegel darf zwischen 423 und 453 Metern (über NN) variieren. Das ist mehr als jeder Tidenhub in Gezeitengewässer und macht es den Menschen schwer, sich daran anzupassen. Wie baut man Bootsstege an einem solchen Gewässer? Es gibt Bilder, die eine Steinwüste in der Uferzone zeigen, wo selbst die hartnäckigsten Gewächse es nicht schaffen, sich zu halten.

Ich spähe über den See hinüber zu Akka, dem Bergmassiv, das Selma Lagerlöf bekannt gemacht hat, aber sie will ihre Wolkenhaube einfach nicht abnehmen.

Rentiere auf Stausee-Eis?

Auf der Laponia-Karte, die an mehreren Stellen im Welterbegebiet hängt, sind neben Wanderwegen auch die Rentier-Zugpfade eingezeichnet. Einer davon geht am westlichen Ufer des Akkajaure entlang über den See.

Karte Akkajaure

Ausschnitt aus der Karte im Welterbe Laponia. Die violetten Punkte sind Rentierzugstrecken. Die durchgezogene violette Linie ist die Kommunegrenze zwischen Jokkmokk und Gällivare.

Ja, wir benutzen diesen Weg“, bestätigt mir später Mikael Kuhmunen, Vorsitzender von Sirges Sameby, zu deren Gebiet unter anderem dieses Ufer gehört. Der Umgang mit dem unzuverlässigen Stausee-Eis ist für sie Alltag, man hat sich daran gewöhnt. Wird Wasser ausgelassen, so werden sie von Vattenfall benachrichtigt, berichtet Kuhmunen. So sind sie zumindest vor den Veränderungen gewarnt.

Ich habe auch Jan Erik Länta gefragt, Vorsitzender von Jåhkågaska tjiellde, einem Sameby, das Flächen an Stauseen des Lilla Luleälv und weiter südlich hat

Rentiere unterwegs.

„Bestimmte Gebiete können wir überhaupt nicht nutzten, auch nicht, um die Rentiere zu verlegen. Wo es geht, nutzen wir das Eis den ganzen Winter und das ganze Frühjahr“, antwortet er per Mail. Das Schwierigste sei die Unsicherheit über die Verhältnisse. Zu Jåhkågaska tjiellde gehört unter anderem das umstrittene Gebiet bei Kallak, wo das britische Unternehmen Beowulf Erz abbauen will und die Regierung immer noch nicht darüber entschieden hat. Hört der Staat den Samen denn heute besser zu als zu Zeiten der Dammbauten? Länta meint, das sei schwer zu sagen. Aber der Staat könne noch besser darin werden, den Samen zuzuhören, als er aktuell sei.

Ritsem

Zuerst kommt lange nichts, dann eine kleine Kapelle, dann bin ich da. Ritsem besteht hauptsächlich aus Hütten, einer zu der Zeit geschlossenen STF-Anlage und einem Ganzjahres-Campingplatz. Es ist ein Treffpunkt und Ausgangspunkt für Touren ins Fjäll, aber fast niemand wohnt dort fest. Im Sommer verkehrte früher das STF-Boot M/S Storlule von dort über den See zu den samischen Siedlungen Vaisaluokta und Änonjalme/Akka. So kamen Wanderer auf die andere Seite, wo der Padjelantaleden beginnt. Dieses Angebot hat STF wie angekündigt eingestellt. Es haben sich jedoch neue Anbieter gefunden, die MS/Storlule weiter betreiben. Außerdem gibt es ein Bootstaxi, und auch das Hubschrauberunternehmen Fiskflyg, das in Ritsem eine Basis hat, bringt Wanderer zur anderen Seite.

Ritsem

Akkajaure, gesehen von Ritsem.

Ich fahre, bis mir ein Schild den Weg verbietet. Ich hatte den Eindruck, in die Wildnis gefahren zu sein, aber Vattenfall ist schon da. Das Internet verrät es mir: In Ritsem landet das Wasser aus dem Bergsee Sitasjaure. Die Fallhöhe beträgt 173 Meter. Das Kraftwerk wurde in den Berg gesprengt, ich sehe den Eingang. Und auch die eisfreie Stelle, an der das Wasser danach in den ansonsten zugefrorenen Akkajaure fließt.

Epilog

Das Eis im Fluss ist getaut. Die Insel Tomholmen  ist wieder eine Insel. Die ersten sind bereits baden gegangen. In den Bergen liegt allerdings immer noch Schnee, es war ungewöhnlich viel in diesem Jahr. Das sind gute Nachrichten für Vattenfall: Das Wasser wird lange reichen. Das sind auch gute Nachrichten für die Stromkunden: Für sie wird es billig. Die Frühjahrsflut, die anderswo die Keller füllt, füllt am Luleälv die Reservoire. An Schwedens größter fließender Batterie klemmen Kunden wie die Bergwerke von LKAB, das Stahlwerk SSAB  und Facebooks Serverhallen in Luleå. Zum Glück sieht der Fluss in Luleå trotzdem einfach aus wie ein Fluss.

 

Text und Bilder Andrea Seliger, Frühjahr 2020. Aktualisiert zu Akkajaure-Verkehr 2022. Die meisten Fotos stammen von dieser Reise im April 2020, einige jedoch auch von früheren Fahrten in der Region.

Die Fortsetzung im Sommer:

Ritsem Revisited: Wo die Menschen kommen und gehen