Wer in Deutschland aufwächst, lernt als erstes über Eis, dass es gefährlich ist. Weil es nämlich nicht hält. Und leider trifft das meistens auch zu. Scheiben abkratzen und Pfützen kaputt treten bleiben deshalb oft die einzigen Eiserlebnisse des Winters. Und deshalb, so behaupte ich, lernt man in Deutschland nichts über Eis.
Am nördlichen Ende der Ostsee ist Eis dagegen – noch – eine Erscheinung, mit der man verlässlich rechnen kann. Es beginnt im Spätherbst zu wachsen, mal langsamer, mal schneller, je nach Wetterlage. Bis Februar wird es aber zumindest an der Küste zu einer so stabilen Schicht, dass sogar Autos darauf fahren können. Im Frühjahr weigert es sich lange zu gehen, auch wenn an Land schon längst aller Schnee geschmolzen ist. Die Bottenwiek ist nicht der Arktische Ozean. Aber dort ist das Eis für jeden zugänglich, mit den simpelsten Mitteln. Deshalb, so behaupte ich, kann dort jeder sehr viel über Eis lernen. Und das hilft auch, die Arktis zu verstehen.
Mineral mit Dichteanomalie
Wikipedia behauptet, dass Eis ein Mineral ist. Weil es eine einheitliche chemische Zusammensetzung und eine kristalline Struktur hat. Und dass es sich oben auf dem Wasser befindet, liege an der Dichteanomalie. Das Schöne ist, dass ich mich dazu nicht positionieren muss, um darauf Schlittschuh zu fahren.
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Das erste Eis an der Küste vor Luleå ist meist dunkles, klares Kerneis wie das eines Binnensees. Der Fluss transportiert hier sein kaltes Süßwasser in die Ostsee, der Salzgehalt ist minimal. Anhand der Sprünge kann man gut abschätzen, wie dick es ist. Profis rammen die Spitze ihres Stocks („Pik“) hinein, um es zu messen. „Fünf Zentimeter Kerneis reichen“ sagt Kjell, bei dem ich einen Kurs mache, um zu lernen, wie man sich aus einem Eisloch rettet. Manchmal gehen auch erfahrene Schlittschuhläufer ein bisschen zu weit. Kjell berichtet, wie er mit einer Gruppe nach Rödkallen unterwegs war, der äußersten Insel im Schärengarten vor Luleå. Leider war das Eis dort draußen noch nicht richtig zusammengefroren, und der aufkommende Wind trieb eine größere Scholle Richtung offene See. Ihr Rückweg war nicht mehr möglich. Sie wurden schließlich von einem Hubschrauber an Land zurückgebracht.
Eis wächst besser, wenn kein Schnee darauf liegt, doch irgendwann kommt der Schnee. Folgt darauf eine Wärmephase, schmilzt er und friert bei neuen Minusgraden mit dem Eis zusammen. Dann wird das Eis milchig und undurchsichtig. Neuer Schnee fällt darauf. Der Schärengarten verwandelt sich in eine weiße, weite Ebene, deren Oberfläche vom Wind gestaltet wird. Auf Skiern erreiche ich nun Ziele, für die ich im Sommer ein Boot brauche. Gehalten von einem vorübergehenden Phänomen der Physik. Von Wasser, das gerade zu einem Mineral geworden ist.
Die Eiswinter prägen die Natur der nördlichen Ostsee, Eis bildet ein eigenes Habitat. Bekannteste Nutznießer sind vermutlich die Ringelrobben, die ihre Jungen normalerweise auf dem Eis bekommen. Ihre Verwandten auf dem weiter im Süden liegenden finnischen Saimaa-See haben bereits Probleme, weil ihr Eis immer kürzer liegt.
Essi Keskinen, Projektleiterin des gemeinsamen finnisch-schwedisches Kartierungsprojektes SEAmBOTH, kennt noch weitere: „Die Eiserosion schafft an der Küste Platz für Pflanzenarten, die sich sonst schlecht durchsetzen könnten. Und eingefrorene Pflanzensamen treiben mit den Schollen fort und können sich anderswo ansiedeln. Das Eis selbst beherbergt außerdem in kleinen vertikalen Salzwasserkanälen Algen und Plankton, und auch unter dem Eis siedeln Organismen.“ All dies gehört zum Ökosystem der nördlichen Ostsee. Auch Fischarten aus der Gruppe der Lachsartigen zählen zu den Profiteuren: Sie laichen unter Eis an flachen, steinigen Ufern. Dort schützt das Eis ihre Nachkommenschaft. Weniger Eis würde sie früher Wind und Welle aussetzen.
Weil die Eiserosion im Frühjahr ein wichtiges Element des Ökosystems ist, müsse nun auch geprüft werden, ob der Bau einer Brücke zur finnischen Insel Hailuoto diese beeinträchtige, erklärt Essi Keskinen. Bisher fährt eine kostenlose Fähre ab Oulunsalo zu dieser größten Insel in der Bottenwiek. Im Winter, wenn das Eis fest genug ist, fährt man über eine Eisstraße. Doch diese die abenteuerlichen Zeiten sollen bald der Vergangenheit angehören: Eine gut acht Kilometer lange Brücke soll die Insel mit rund 1000 Einwohnern mit dem Festland verbinden.
Hailuoto und das Eis
Ich besuche Hailuoto Anfang März 2020 und muss die Fähre nehmen. Die Scholle knallen gegen den Metallrumpf. Die gelbe Autofähre „Meriluoto“ kann aber mühelos ihre Fahrrinne verfolgen. Das ist weniger ein Beweis für ihre Eistauglichkeit. Es ist eher ein Beweis dafür, dass das Eis nicht taugt. Für eine Eisstraße nach Hailuoto hat es nicht gereicht in diesem Jahr.
Hailuoto ist mein Ziel, weil vor dieser Insel ein Eiswall liegen soll. Sagt die Eiskarte, die das Finnische Meteorologische Institut (Ilmatieteen Laitos) und die schwedischen Kollegen (Svenska meteorologiska och hydrologiska institut, SMHI) im Winterhalbjahr gemeinsam herausgeben. Vom Anleger fährt man quer über die Insel bis Marjaniemi. Um diese Zeit des Jahres liegen alle Fischerboote an Land, nur ein Lotse liegt noch im zugefrorenen Hafen.
Vielleicht ist es die exponierte Lage der Insel, die dazu führt, dass sich dort häufiger Eisphänomene beobachten lassen. Vor einiger Zeit ging ein Foto mit Eiskugeln am Strand von Marjaniemi um die Welt. Essi Keskinens Kollege von SEAmBOTH filmte dort Pfannkucheneis. Und ich bekomme nun meine Eiswälle. Direkt am Strand und weiter draußen, soweit das Auge reicht. Der Wind bläst eine dünne Schicht Schnee über die weiße Ebene. Ganz in der Ferne sehe ich etwas reflektieren – offenes Wasser? Die untergehende Sonne taucht die Eiswelt in besonders schönes Licht.
Die Eisbedeckung der Ostsee unterscheidet sich von Jahr zu Jahr. Viele Faktoren spielen dabei eine Rolle – nicht zuletzt die Großwetterlage und ihre Temperatur- und Windverhältnisse. Im Gegensatz zur restlichen Ostsee ist Eis in der Bottenwiek aber noch eine verlässlich wiederkehrende Erscheinung im Jahreszyklus. Dort ist es über Winter nicht nur kälter und es gibt weniger Sonneneinstrahlung als weiter südlich. Das kalte Süßwasser der großen Flüsse lässt den Küstenbereich schneller gefrieren, vor allen dort, wo Inseln Schutz bieten. Der Austausch des Wassers und der Salzzufluss aus der restlichen Ostsee wird durch die Engstelle bei Kvarken erschwert.
Die Menschen an der Küste wissen das Eis für ihre Zwecke zu nutzen. Eisangeln ist extrem beliebt, und das Schneemobil bringt sie auf dem kürzesten Weg überall hin. In jüngster Zeit kann man auch vermehrt Kiter auf der zugefrorenen Ostsee beobachten. Für die Bewohner und die Hüttenbesitzer im Schärengarten von Luleå sind zudem die Eisstraßen wichtig. Wer an einem Märztag auf der Mole von Hamnholmen steht, wundert sich möglicherweise über den regen Verkehr nach Sandön. Dort leben schließlich nur 53 Leute fest. „Man muss jetzt alles Baumaterial auf die Insel bringen, das man im Sommer braucht“, erklärt mir ein Inselbewohner. Sobald das Eis verschwunden ist, geht das nämlich wieder nur per Boot. Deshalb nutzen auch die zahlreichen Hüttenbesitzer von Sandön und anderen Inseln die Möglichkeiten, die ihnen das Eis bietet.
Mit dem Auto auf dem Eis
Offizielle Eisstraßen in Schweden oder Finnland werden vom Schnee geräumt und ihre Tragfähigkeit überwacht. Meinen ersten Versuch damit machte ich im Frühjahr 2019 auf der Eisstraße nach Hindersön im Schärengarten von Luleå. Obwohl ich sehen konnte, dass das Eis die großen schwedischen Autos trug, kostete es mich Überwindung. Ich begutachtete die Zufahrt und amüsierte mich über das Schild, das mir verbot, auf der Fahrbahn zu angeln und Feuer zu machen. Ich war bereits auf der Ostsee Schlittschuh gelaufen und Ski gefahren. Doch die deutsche Lehre, dass Eis etwas Gefährliches ist, das man keineswegs mit so schweren Fahrzeugen wie einem Auto aufsuchen sollte, saß noch tief.
Ein Einheimischer sah mich dabei und sprach mich an. Er versicherte mir, man könne sich auf die Eisstraße verlassen. Dann sagte er, er würde immer den Sicherheitsgurt offen lassen. Ja was denn nun – sicher oder nicht?
Wie sich herausstellte, war weder die Tragfähigkeit des Eises noch die Zufahrtssituation ein Problem. Aber der kräftige Wind wehte den Schnee vom Ostseeeis auf die geräumte Strecke. Eisstraßen sind sehr viel breiter als normale Straßen, aber aufgrund der Schneewehen war streckenweise nur die Hälfte davon noch befahrbar. Nachdem der Mann mich außerdem vorgewarnt hatte, dass Hindersön eigentlich nicht auf Autoverkehr ausgerichtet ist, genoss ich an geeigneter Stelle noch die Aussicht und drehte um, bevor die Schneewehen zu hoch für meine kleinen Lupo-Räder wurden.
Der mildeste Eiswinter aller Zeiten
Kein Jahr ist wie das andere. Im Herbst 2019 kam der Winter früh und wurde doch der mildeste Eiswinter, den SMHI und Ilmatieteen Laitos je gemessen haben. Sie berechneten die maximale Eisausdehnung auf 37 000 Quadratkilometern am 5. März 2020. Immer wieder hatten südliche Winde Wärme in den Norden geschaufelt und das dünne Eis aufgebrochen. In der Statistik der Institute ist der Eiswinter 2019/2020 der mit der geringsten bedeckten Oberfläche bisher. Ein Jahr später war es dann anders herum: Der Eiswinter 2020/2021 begann schlecht mit einem sehr warmen Dezember und brachte es dann doch noch auf etwa 127 000 Quadratkilometer Eis mit einer komplett zugefrorenen Bottenwiek.
Maximale Eisausdehnung auf der Ostsee im Frühjahr 2020 – dem schlechtesten Eiswinter aller Zeiten. Quelle SMHI/FMI
Dass auch bei einem milden Winter noch bis Ende Mai Eisreste zu finden sind, mag einem Mitteleuropäer sehr lang vorkommen. Doch wenn Anfang März in Mitteleuropa schon die Frühlingsblüher erscheinen, hat das küstennahe Ostseeeis in der Regel gerade erst seine maximale Dicke erreicht. Der Schnee darauf reflektiert die immer stärker werdende Sonne und schützt es vor ihr. Der Albedo-Effekt lässt sich einfach beobachten: Auf die weiße Fläche gewehte Zweige oder altes Laub sinken ein, während unberührtes Weiß bestehen bleibt. Gleichzeitig kühlt das Eis den Schnee von unten und er hält sich, während er an Land zu schmelzen beginnt.
Mit dem Schneemobil und auf Skiern ist das küstennahe Eis normalerweise noch bis in den April hinein zu nutzen, je nach Lage. Ist der schützende Schnee aber weg und trifft die nun hoch stehende Sonne direkt auf die Eiskristalle, kann sie den Kristallverband innerhalb kürzester Zeit zerstören. „Im Frühjahr ist die Eisdicke nicht ausschlaggebend!“ hat uns Kursleiter Kjell gewarnt. Manchmal ist das Vertrauen der Küstenbewohner in das Eis auch zu groß. Sie versinken mit ihren Schneemobilen, können sich selbst aber meistens retten. Ich zerbrösele Ende April mit bloßer Hand den Rand einer 20 Zentimeter dicken Scholle. Das Mineral zerfällt in Kleinteile. Frisches Herbsteis hätte sich das nicht bieten lassen.
Ende Mai 2020 fahre ich nach Lulviken, um bei klarem Himmel die Wanderung des Sonnenschimmers über den Nachthimmel zu verfolgen. Diese Bucht ist nach Norden offen, deshalb hat man dort eine besonders gute Sicht.
Auf der anderen Seite, weit weg, liegt die Stadt (Luleå). Zu dieser Zeit wird es schon nicht mehr richtig dunkel nachts. Wald und Strand sind seit langem schneefrei. In der Stadt haben sie die Container mit Sommerblumen aufgestellt. Wir tragen tagsüber auch schon mal T-Shirts, die Bäume beginnen, grün zu werden. Doch letzte Reste des Eises sind immer noch da: festgefroren am Ufer oder wie kleine Ungeheuer im Wasser treibend. Bald wird das Eis sich der Wärme endgültig ergeben – doch es liefert ihr einen harten Kampf!
Eis, so hat mich meine Zeit im Norden gelehrt, ist nicht nur diese flüchtige Erscheinung auf Pfützen und Scheiben, die in ganz seltenen Fällen auch für eine Schlittschuhrunde auf dem See reicht. Eis ab einer gewissen Dicke ist ein unglaublich stabiles Material, das in Kooperation mit Schnee Wärmephasen sehr effektiv trotzen kann. Gerade deshalb sollte es uns Sorgen machen, dass es immer weniger davon gibt und die Gletscher schmelzen. Dass es so weit gekommen ist, zeigt, welche mächtigen Prozesse bereits in Gange sind. Und die Gesetze der Physik sind nicht verhandelbar: Zwei Grad können den Unterschied machen zwischen Gefrieren und nicht Gefrieren.
Texte, Fotos und Videos Andrea Seliger Dezember 2020/ Überarbeitung und Aktualisierung Dezember 2021. Grafiken SMHI
Mehr zu Eis: Svartisen. Annäherung an einen Gletscher.